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Marx´ Gespenster
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Leben ist Überleben

Teil 1/ Teil 2/

„Das Erbe ist niemals ein Gegebenes, es ist immer eine Aufgabe.“
Jacques Derrida

Als ich 1995 zum ersten Mal „Marx´ Gespenster“ von Jacques Derrida las, schien sich das, was man bisher unter Dekonstruktion verstand, irgendwie verändert zu haben. Die Dekonstruktion war bis dahin für mich immer ein – vorsichtig gesagt - literarisches oder philosophisches Verfahren, nämlich ein Verfahren zur Auflösung feststehender Oppositionen in einem Spiel der Differenzen. Spätestens seit 1990 begann Derrida über Begriffe wie Gerechtigkeit, Verantwortung, Überleben zu sprechen und zu schreiben. Auch die Titel seiner Bücher klangen anders als früher: „Das andere Kap, Die vertagte Demokratie“, „Politik der Freundschaft“, um nur zwei Beispiele zu nennen. Mag sein, dass die Entdeckung einiger antisemitischer Artikel seines Freundes Paul de Man (immerhin bis dahin „der Vertreter der Dekonstruktion in Amerika“) ein Grund für diesen Wechsel der Blickrichtung war, viel ausschlaggebender jedoch waren wohl die Ereignisse (und ich glaube, für Derrida waren diese wirklich ein „Ereignis“) von 1989. 1993, zu einer Zeit als der Marxismus mit den an seinen Ideen orientierten Staaten untergegangen zu sein schien, begann Derrida intensiv und bestimmt nicht zufällig über Marx bzw. über die Geister von Marx zu sprechen. In seinem letzten Interview 2004 „Das Leben, das Überleben“, das ich am 9. Oktober auf dem Weg zur Frankfurter Buchmesse im Zug gelesen habe, spricht er kurz darüber, dass er „ziemlich schwer erkrankt“ sei, das Gespräch kommt dann aber gleich wieder auf „Marx´ Gespenster“: Erbschaft, Verantwortung, Forderung. Nur zwei Zitate noch aus diesem Gespräch: „Ich habe nicht gelernt, den Tod zu akzeptieren. Wir alle sind Überlebende mit einer Aufschubfrist“ und „Leben ist Überleben“.
Am Spätnachmittag auf der Buchmesse erfuhr ich dann, dass Derrida soeben gestorben war. Im Dezember 2003 hatte ich ihm noch einen Brief geschrieben, denn natürlich wollte ich auch dem großen Derrida ein paar Fragen zu Marx stellen. Und tatsächlich erhielt ich auch im Januar eine Antwort von Derrida. Ein kurzer Brief, offensichtlich von ihm selbst verfasst, unterschrieben und hastig in einen Umschlag gesteckt: die Krankheit, dringlichere Aufgaben..., aber ich denke, dass ihm die Idee von „Remarx“ gefallen hat und er unter anderen Umständen gerne an der Interviewreihe teilgenommen hätte.
Wenn ich also 2005, sechzehn Jahre nach 1989, erneut anfange über Marx und seine Geister zu sprechen, wieder zu einer Unzeit – denn auch alle Postkommunismusdebatten haben die derzeitige Hegemonie nicht unterbrechen können – dann spreche ich auch immer über Jacques Derrida und das, was wir von ihm geerbt haben: das Überleben.