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Marx´ Gespenster
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Iring Fetscher
Michael Hardt
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Intro/ Interview/ Biografie/

Teil 1/ Teil 2/

Marx

"Sicher ist, dass ich kein Marxist bin. So sagte, wie wir uns erinnern vor langer Zeit, jemand, dessen geistreichen Scherz Engels überliefert. Muß man sich noch auf Marx berufen, um zu sagen: 'Ich bin kein Marxist?' Woran erkennt man eine marxistische Aussage? Und wer kann noch sagen: 'Ich bin Marxist'?"
Jacques Derrida

Ich gehöre einer Generation an, die nicht mehr selbstverständlich mit dem Instrumentarium des Marxismus aufgewachsen ist (für mich sind das nun wirklich Gespenster), sondern die eher mit dem Denken von Baudrillard, Derrida, Deleuze, Foucault groß geworden ist. Von daher wäre es hilfreich ein paar der gängigen Begriffe (das Vokabular) des Marxismus durchzugehen und zu hinterfragen. Das erste Buch allerdings, dass ich von Marx und Engels kennen gelernt habe, war die „Deutsche Ideologie“ und da hat mich die Nähe zu den aktuellen philosophischen Diskursen erstaunt: Beginnen wir vielleicht mit dem Titel. Was versteht Marx unter Ideologie?

Interessanterweise ist der Begriff Ideologie, so wie ihn Marx verwendet hat, nämlich als einen kritischen Begriff, im Laufe der Zeit – vor allem auch bei den Marxisten und ganz besonders bei den Sowjetmarxisten – zu einer allgemeinen Bezeichnung für jede Art von Weltanschauung geworden. Marx versteht unter Ideologie ein aus den Lebensbedingungen der Menschen heraus entstandenes falsches Bewusstsein. Falsches Bewusstsein meint ein Bewusstsein, das nicht angemessen die Wirklichkeit, in der die Menschen leben und mit der sie zu tun haben, wiedergibt. Und die deutsche Ideologie ist halt eine Form von falschem Bewusstsein, wie sie sich in dem relativ rückständigen – industriell und sozial rückständigen – Deutschland entwickelt hat. Wobei das, was er damit beschreibt, durchaus bedeutende Geistessysteme sein können. Das betrifft z.B. den deutschen Idealismus – Kant, Fichte, Schelling, Hegel – der trotzdem Ideologie und insofern falsches Bewusstsein ist, weil er nicht die angemessene, realistische Einsicht in die Wirklichkeit, in der die Menschen leben und mit der sie es zu tun haben, wiedergibt.

Das würde bedeuten, dass Ideologie, um Ideologie im Marxschen Sinne zu sein auch eine Ideologiekritik enthalten muss. Also nicht in dem Sinne, dass man durch die Abschaffung der herrschenden Ideologie irgend etwas ändern würde. Was will Marx?

Ich glaube, er stellt sich vor, dass das falsche Bewusstsein – man sollte vielleicht sogar noch exakter sagen notwendig entstandene falsche Bewusstsein – erst dann verschwindet, wenn die Menschen unter Voraussetzungen leben, in denen sie sich kein falsches Bewusstsein mehr bilden müssen oder zu bilden gezwungen sind. Nun kann man sich fragen, wie kommt denn Marx selber dazu, das zu durchschauen und zu durchbrechen? Ist er ein solches Genie? Zum einen ist er vielleicht dazu in der Lage, weil er weder als Proletarier noch als Unternehmer aufgewachsen, sondern in gewisser Weise schon ein freischwebender Intellektueller ist, obgleich er den Ausdruck selber nicht gebraucht hat. Er ist zum anderen auch in der Lage sich vorzustellen, wie sich das Bewusstsein von Menschen verändert, wenn sie sich in bestimmten gesellschaftlichen Situationen befinden. Ein wunderbares Beispiel, das er einmal gibt, ist, dass jeder einzelne Unternehmer natürlich möchte, dass seine Arbeiter mit möglichst geringen Löhnen auskommen sollen, damit er möglichst viel Profit machen kann. Auf der anderen Seite will der gleiche Unternehmer, dass die anderen Unternehmern ihren Arbeitern möglichst viel bezahlen, damit sie die Produkte seines Unternehmens auch kaufen können. Das ist dann sozusagen ein typischer Fall von falschem standortbedingtem Bewusstsein und hängt mit der Unfähigkeit des Unternehmers zusammen, von der Standortgebundenheit seines Denkens zu abstrahieren. Und da Marx weder Unternehmer noch Arbeiter war, war er in der Lage diese ideologischen Befangenheiten leichter zu durchschauen.

Er war aber auch nicht Hegel, er besaß keine welthistorische Übersicht.

Hegel glaubte, die welthistorische Entwicklung als einen fortschreitenden Prozess zur Herausbildung des zeitgenössischen konstitutionell-monarchischen Rechtsstaates und einem zum „absoluten Wissen“ gewordenen Denkens erkennen zu können. Marx setzt diesen Gedankengang – auf die sozialökonomischen Verhältnisse fundiert – in eine antizipierte künftige Entwicklung hinein fort und erkennt vor allem die immense Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise, die die Menschen dazu zwingt, mit immer geringerem Aufwand immer mehr und immer bessere Güter und Dienstleistungen zu produzieren. Natürlich war Marx auch jemand, der die Welt verändern wollte und in diesem Veränderungswillen steckte ein Stückchen utopisches Denken. Er sieht im Geist eine Zukunft heraufziehen, in der alle Menschen sich allseitig frei entwickeln können, so dass keine Herrschaft mehr nötig ist, in der alle Menschen mit ihrer Tätigkeit zufrieden sind und nicht mehr extreme oder unangenehme Arbeit vollbringen müssen. Von diesem Zukunftsideal her – wenn man das mal so nennen darf – gibt es bei ihm zweifellos Ansätze zu einem nicht mehr wissenschaftlich exakten Denken, sondern zu einer Art überschwänglicher Fantasie oder überschwänglicher Philosophie oder vielleicht sogar utopischen Ideologie.

Marx Auffassung von Ideologie unterscheidet sich nicht wesentlich von dem, was man später Kritische Theorie genannt hat. Marx spricht gleich auf der ersten Seite des Buches sogar von den philosophischen Industriellen, was einen sofort an den Begriff der Kulturindustrie erinnert. Hat die „Deutsche Ideologie“ die Frankfurter Schule beeinflusst?

O ja, ganz sicher. Horkheimer, Adorno, Marcuse und andere haben alle viel Marx gelesen, vor allem auch den frühen Marx, am gründlichsten glaube ich Herbert Marcuse. Einige Frühschriften von Marx sind ja erst 1932 erschienen, vor allen Dingen die so genannten „Pariser Manuskripte“, die Marx 1844 geschrieben hat. Da sind zum ersten Mal Konzepte formuliert mit denen dann später vor allem Adorno operiert hat. Es gibt gar keinen Zweifel, dass diese Schriften einen großen Einfluss auf Horkheimer und Adorno gehabt haben. Beide haben auch, wenigsten bis 1935/36, daran festgehalten, dass es so etwas wie eine befreiende revolutionäre Entwicklung in Richtung auf die klassenlose und herrschaftsfreie Zukunftsgesellschaft geben sollte oder könnte. Erst als sie merkten was in der Sowjetunion passierte und dass die entwickelten Industrieländer keine Anstalten machten, die Gesellschaft in Richtung auf eine freie sozialistische Zukunftsgesellschaft zu verändern, haben sie dann doch eher resigniert und gemeint es genüge einstweilen, wenn man wenigstens die Erinnerung an eine mögliche freiere Gesellschaft wach hält. Das meint die berühmte Formulierung mit der Flaschenpost, die sie einer Zukunft schicken, die vielleicht dann einmal wieder was damit anfangen könnte. Also ganz so resigniert, wie es manchmal klingt, sind sie möglicherweise doch nicht geblieben. Aber im Unterschied zu Herbert Marcuse, der geradezu überschwänglich bei jeder neuen revolutionären Bewegung – sei es der amerikanischen und europäischen Studentenbewegung, sei es der antiimperialen Bewegungen in der Dritten Welt – glaubte, das seien jetzt wieder Ansätze in Richtung auf die Verwirklichung dessen, was Marx einmal gewollt hat, waren Horkheimer und Adorno doch zu skeptisch, um das für möglich zu halten.

Marx selber belässt es dann ja bekanntlich nicht bei den kritischen Impulsen seines Werkes, sondern macht Vorschläge, die herrschenden gesellschaftlichen Strukturen zu transformieren bzw. wenn möglich ganz abzuschaffen. Hier treten wir dann ja ein in einen utopischen Raum – Sie haben es vorher angesprochen - denn aufgrund der Enttäuschung über die Revolution von 1848 verlegt Marx seine Idealvorstellung in die Zukunft, sozusagen in den Bereich der Science-Fiction. Dazwischen liegt aber noch eine zu erfüllende Aufgabe, die sich uns durch den historischen Materialismus erschließen soll. Ganz kurz, was ist für Marx der historische Materialismus?

Na ja, der Ausdruck historischer Materialismus ist leider in den ideologischen Verformungen durch die kommunistischen Parteien banal und unwissenschaftlich geworden. Historischer Materialismus heißt eigentlich, dass die geschichtliche Entwicklung in erster Linie auf der Veränderung der Produktionsverhältnisse und der Produktivkräfte basiert, das heißt, wie die Menschen produzieren und was sie produzieren bedingt ihre gesellschaftlichen Verhältnisse und aus den gesellschaftlichen Verhältnissen gehen dann auch ihre geistigen Verhältnisse und ihre politischen Ordnungen hervor. Insoweit müsste Marx sich nicht korrigieren, denn das hat sich auch so entwickelt. Es ist ganz interessant , dass Marx in den 50er Jahren – als er sich intensiv mit seinem Hauptwerk „Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie“, Band 1 beschäftigt hat und die Bände 2 und 3 auch wenigstens schon im Konzept fertiggestellt hatte – einmal an Engels schreibt: Ja, nachdem jetzt Kalifornien kapitalisiert ist, nachdem die Märkte in China und Indien eröffnet sind und Australien auch sozusagen in den Weltmarkt einbezogen ist, ist eigentlich der Weltmarkt und der Weltkapitalismus vollendet und die Revolution könnte beginnen. Und dann schreibt er etwas sehr Merkwürdiges: wenn wir aber nun – und er meint immer Europa, England, Frankreich, Deutschland, das waren die Länder, in denen er meinte, dass die Revolution imminent sei – die Revolution machen und siegen, aber auf der anderen Seite der Kapitalismus in anderen Teilen der Welt noch einen Fortschritt macht, das heißt also erst in der Entwicklung ist, dann „we could be crashed“ – manchmal schreibt er in diesen Briefwechseln eine Mischung von Deutsch und Englisch – dann werden wir also wieder zerdrückt werden.

In der „Deutschen Ideologie“ schreibt er darüber, wenn ich mich recht erinnere, dann kommt die ganze alte Scheiße wieder.

Er hält das jedenfalls für möglich, denn er ist nicht der Meinung, dass das immer unbedingt so läuft wie er sich das wünscht. Es ist doch erstaunlich, dass Marx den Weltmarkt zwar für eigentlich fertig hält, aber trotzdem befürchtet, dass der Sozialismus in Europa von der überwältigenden Menge der Länder, die sich noch im Anfangsstadium des Kapitalismus befinden und eventuell erst noch einen ungeheuer blühenden Kapitalismus bekommen werden, wieder zerdrückt werden könnte. Das Merkwürdige ist, dass er damit eigentlich die allerbeste Prognose gegeben hat. Aus zwei Gründen: erstens ist die Revolution ja nicht in den entwickelten europäischen Ländern gekommen, sondern in dem unterentwickelten Russland und in dem noch unterentwickelteren China und zweitens hat die weltwirtschaftliche Durchdringung der ganzen Erde ja überhaupt erst im 21. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht, wenn man z.B. daran denkt, dass Russland erst jetzt langsam kapitalistisch wird, China erst seit 10 Jahren auf dem Weg zum Kapitalismus ist und so fort. Marx konnte es sich außerdem einfach nicht vorstellen, wie viele Gebiete der menschlichen Produktion alle noch kapitalistisch strukturiert werden konnten, die zu seiner Zeit noch nicht kapitalistisch strukturiert waren. Es gibt also von ihm zum Beispiel die These – das hab ich auch versucht in dem fünften Band meiner Studienausgabe noch mal herauszustellen – dass die Transportmittel, und dazu gehören heute ja auch die elektronischen Transportmittel am Anfang alle von den Staaten, von der Regierung, also auf Staatskosten erstellt werden und erst dann, wenn sich das wirklich lohnt auch kapitalistisch strukturiert werden. Das Gleiche haben wir mit der gesamten Kommunikationstechnik auch gerade erst erlebt, bei Marx fing das gerade erst an mit dem Eisenbahnbau. Das war für ihn der erste große Schritt, der Eisenbahnbau wurde zunächst zum Teil erst staatlich, dann mit Aktiengesellschaften kapitalistisch betrieben. Das Krankenhauswesen ist auch so ein Gebiet, das mich im Augenblick besonders bewegt, weil das so niemand vorausgesehen hat. Die Krankenhäuser waren ursprünglich Angelegenheit der Kirchen und Gemeinden bzw. einzelner Staaten. Aber Krankenhäuser sozusagen als große Konzerne, die ganze Staaten umfassen, dieses Phänomen gibt es erst seit ganz kurzer Zeit. Marx hat sowohl die Intensität der Durchdringung mit kapitalistischen Produktionsmethoden als auch die Extensität wahnsinnig unterschätzt. Nehmen Sie als Beispiel den Kapitalismus in China. Nachdem China relativ früh durch den Opiumkrieg für den Kapitalismus geöffnet war – die Tatsache, dass die Engländer den Chinesen den Zoll für die Opiumeinfuhr genommen haben, war ja kein schöner Anfang für den kapitalistischen Import – aber trotzdem gibt es erst seit Teng Hsiaoping so etwas wie eine Entwicklung zum chinesischen Kapitalismus. Da hat sich Marx tatsächlich getäuscht und von daher ist es gar kein Wunder, dass die kleinen Anfänge von staatskapitalistischem Pseudosozialismus in Russland und in Osteuropa wieder zu Grunde gingen bzw. wie Marx dies selber genannt hat „ge-crashed“ worden sind.

So ganz glaubte Marx ja auch nicht an seine Vision der Zukunft – den Kommunismus – die sich mit ein bisschen nachhelfen, sozusagen ganz von selbst einstellen sollte. Er spricht im „Kommunistischen Manifest“ vom Gespenst des Kommunismus. Was ist das für ein Gespenst, von dem Europa da heimgesucht wurde und ja immer noch wird?

Im Vorwort zum „Manifest der Kommunistischen Partei“ – wie es eigentlich genauer heißt – ist natürlich gemeint, dass die konservativen Europäer aus dem Kommunismus ein Gespenst machen. Für sie ist der Kommunismus das Schlimme, was kommt und dann entwirft Marx sein Gegenbild. Nun, man kann sagen, dass aus der Realität der Länder, die sich selbst kommunistisch nannten, dann ein wirkliches Gespenst geworden ist. Zur gleichen Zeit da in der Sowjetunion eine Karikatur des Sozialismus, in Wirklichkeit eher ein feudaler Staatskapitalismus entstand, der auf Grund seiner schwerfälligen bürokratischen Planwirtschaft weithin gegenüber den entwickelten kapitalistischen Ländern zurückblieb, entstand in europäischen Ländern (Skandinavien zumal) und in den USA des New Deal ein sozialpolitisch korrigiertes Wirtschaftssystem, in dem die produzierenden Klassen weit besser leben konnten als im sowjetischen Staatskapitalismus. Zu dieser Entwicklung haben reformbereite Politiker und Unternehmer (wie Henry Ford) zum Teil auch aus Furcht vor dem – im Westen von vielen idealisierten – Kommunismus beigetragen.

Das ist ja nicht die einzige Stelle bei Marx, die vom Gespenst handelt. Im Gegenteil, es spukt an allen Ecken. Da gibt vor allem die Ware, dann das Geld, um nur ein paar solcher Scheinwesenheiten zu nennen; aber man findet auch einen tanzenden Tisch wie in einer spiritistischen Sitzung. Was ist die Ursache für diesen ganzen Spuk?

Na ja, was Marx auf der anderen Seite als diesen Spuk bezeichnet, meint, dass man eigentlich auf den ersten Blick nicht erkennt, was da passiert. Da passiert etwas sozusagen hinter dem Rücken der beteiligten Personen, es entsteht etwas, was man nicht durchschaut. Und deswegen hat er auch gesagt, die Ware ist etwas Vertracktes. Was ist den eigentlich eine Ware oder das Geld, das Geheimnisvollste überhaupt? Marx hat ja immer wieder versucht hat, den Menschen zu erklären, was das Geld eigentlich ist. Geld, das ist ein Stückchen Gesellschaft, gesellschaftliche Arbeitskraft. Also ich hab hier in meiner Tasche Geld und das Geld gibt mir das Recht – jetzt nehmen wir mal nicht nur Produkte – über die Tätigkeit von anderen Menschen zu verfügen. Das ist doch was ungeheuer Geheimnisvolles, Geld hat was Gespenstisches, was Magisches. Die meisten Menschen können diese magischen, mysteriösen Verhältnisse gar nicht verstehen können, deshalb hat er versucht, diese Verhältnisse durchschaubar zu machen, um damit den Spuk aus den Köpfen zu vertreiben.

Marx bezeichnet die Ware als eine gallertartige Masse. Die Ware nimmt eine Art körperliche Substanz an, die aber trotzdem nicht richtig greifbar ist.

Ja, weil Ware und Kapital Begriffe sind, unter denen die meisten Menschen nicht das verstehen, was sie eigentlich sind. Z.B. sagt Marx ganz richtig – meines Erachtens überzeugend – Kapital ist ein bestimmtes Verhältnis von Personen und Gegenständen. Kapital ist nicht einfach Besitz, eine Million, 10 Millionen, eine Fabrik oder ein großes Grundstück – das ist alles noch kein Kapital, sondern Kapital entsteht erst dann, nehmen wir ein großes Industriewerk, wenn es zugleich Menschen gibt, die sich als Lohnarbeiter in dieser Institution verdingen müssen, weil sie selber keine Produktionsmittel
besitzen. Das Kapital ist also ein Verhältnis von Geräten, von Besitzern von Geräten und Besitzlosen, die für diese Geräte arbeiten. Eine Fabrik ohne Arbeiter ist kein Kapital. Und eine Ware ist nicht einfach ein Tisch, den ein Tischler hergestellt hat, sondern ein Tisch ist erst dadurch eine Ware, dass er auf dem Markt verkauft wird und dass der Tischler Käufer für die Ware findet. Einerseits ist ein Tisch ganz klar ein Produkt, ein hergestelltes Produkt, das einen bestimmten Zweck erfüllt und somit einen Sinn hat – es muss irgendwie für jemanden brauchbar sein – aber auf der anderen Seite muss es auch eine zahlungsfähige Nachfrage geben. Angenommen wir leben in einem Land, in dem die Leute alle vollkommen eigentumslos sind. Es gibt aber irgendwelche Produzenten, die eine Riesenmenge von Tischen hinstellen. Die verwandeln sich dann nicht in Waren, sie bleiben einfach tote Tische, weil es keine Nachfrage für sie gibt. Marx hat in der Folge versucht zu zeigen, dass der Wert der Ware nicht dasselbe ist wie der Gebrauchswert. Nehmen wir einen Stuhl oder nehmen wir lieber noch was zu Essen – das ist für alle Menschen was ganz Sinnvolles als Gebrauchswert. Das wird nur im Zusammenhang mit der zahlungsfähigen Nachfrage eine Ware. Da gibt es eine Theorie von Marx die besagt, dass der Wert der Ware dem durchschnittlichen Aufwand der Arbeitszeit für die Herstellung der Ware entspricht. Das ist eine relativ komplizierte Theorie, aber Waren und Gebrauchsgegenstände sind eben nicht das Gleiche. Kapital und eine Fabrik sind nicht das Gleiche, sondern sind das eben nur im Zusammenhang mit bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen. Und das ist, glaube ich, auch was er mit dieser Vertracktheit meint, mit dieser Magie oder wie immer man das nennen will, die die Menschen nicht durchschauen. Am Groteskesten ist das beim Geld der Fall, denn das Geld selbst ist ja eigentlich gar nicht viel wert, vor allen Dingen nachdem wir kein Goldgeld mehr haben. Früher gab es ja noch den Goldwert, da konnte man noch sagen, das ist also soundsoviel wert. Aber heute ein Euro, der enthält doch nur einen Minimalwert an Material. Trotzdem enthält der Euro sozusagen eine Anweisung auf einen bestimmten Anteil der gesellschaftlichen Produktion eines großes Gebietes, sogar der ganzen vom Weltmarkt umfassten Welt, also innerhalb dessen dieses Geld in Umlauf ist.

In dem Kapitel über den Warenfetischismus heißt es wiederum ausdrücklich, dass eine wissenschaftliche Erkenntnis dieser Zusammenhänge den Spuk, oder wie Marx ihn hier nennt den Schein, nicht verscheuchen kann. Denn dazu bedarf es wiederum anderer Produktionsverhältnisse.

Ja klar, solange die Verhältnisse, in denen wir leben, existieren, ändert sich nichts. Verhältnisse, in denen es eigentumslose Arbeitende und Besitzende gibt, die über Arbeitskräfte verfügen, Arbeitskräfte benötigen, um ihren Besitz in Kapital zu verwandeln, so könnten man´s mal nennen. Ein Haus, das niemand mietet, ist kein Kapital, ein Haus wird aber zum Kapital, indem ich´s vermiete. Die Begriffe selbst täuschen wie gesagt dort immer etwas Gegenständliches vor, wo gar nichts oder jedenfalls nicht nur Gegenständliches ist. Es sind immer nur Beziehungen, die sich in diesen Ausdrücken spiegeln, die aber gleichzeitig von den Menschen für die Sache selbst gehalten werden, wie das Geld am klassischsten veranschaulicht. Denn zu sagen, dass man ein Stückchen Gesellschaft in seinem Portmonee in seiner Tasche mit sich herumträgt, das klingt doch irgendwie irrsinnig. Wenn ich aber genug Geld habe, kann ich allerhand damit erreichen, damit kann ich zum Beispiel einen Mörder kaufen oder auch einen Arzt, der mich gesund macht. Deshalb bezeichnet Marx das Geld als Fetisch, der hat die magische Eigenschaft Tätigkeiten zu ermöglichen oder mir zu beschaffen, die ich sonst nicht habe. Marx zitiert dazu gerne aus Dichtungen: ich selbst bin schwach, aber ich kann mir Pferde leisten; damals hatte man noch kein Auto. Habe ich 6 Pferde vor meinem Wagen, dann bin ein ganz schneller Mann, der von einem Ort zum anderen kommen kann. Er zitiert das irgendwo: „Kann ich mir sechs Pferde kaufen, sind ihre Kräfte die meinen“. Das sind dann eben seine Kräfte.

Kommen wir vielleicht kurz zu Jean Baudrillard – ich weiß nicht, ob Sie seine Schriften kennen –, der ja längere Zeit ein fleißiger Marxleser gewesen sein muss, dann aber irgendwann wohl beschlossen hat, dass man die Gespenster nicht vertreiben kann. Nicht zufällig ist sein Lieblingsbegriff ja das Simulakrum. Baudrillard wechselt hier in Bezug auf den Wert einfach vom ökonomischen Modell zum linguistischen Zeichenmodell, zu einer Ökonomie der Zeichen; und in der gibt es laut Baudrillard eben keine Gebrauchswerte mehr, sondern nur noch Tauschwerte. Wir leben in einer Zirkulation der Zeichen, es gibt keine reale Produktion mehr sondern nur noch Reproduktion etc. Diese ganzen Modelle, die Sie vorher angesprochen haben, wären einfach nur noch soziale Scheinmodelle, denn es gibt keine Referenz mehr.

Also ich würd´ sagen, Baudrillard beschreibt etwas, das phänomenologisch zutreffend ist. Das hat aber an der Sache überhaupt nichts geändert. Marx spricht ja auch einmal von dem Geldschleier. Geldtausch, das ist symbolischer Tausch. Das sind zwar alles symbolische Handlungen, aber hinter denen steckt doch eine Realität. Und diese eigentliche Realität wird nicht dadurch aufgehoben, dass man sagt, man kann das alles auch in symbolische Phänomene verwandeln. Ich würde eher sagen, die Ökonomie ist in der entwickelten modernen Gesellschaft so komplex, dass sie eigentlich nur noch Scheincharakter zu haben scheint. Aber natürlich ist dahinter Realität. Sie können sich z.B. fragen, wie es kommt, dass ein Land, das so verschuldet ist wie die Vereinigten Staaten immer neue Schulden machen kann – der Staat macht Schulden, die Privatleute machen Schulden, die Vereinigten Staaten haben ein ungeheures Außenhandelsdefizit – und trotzdem funktioniert das alles. Natürlich funktioniert das deshalb alles, weil andere Länder wie z.B. die ölproduzierenden Staaten oder die Japaner und Chinesen die Staatsanleihen Amerikas kaufen, in der Annahme, dass man damit relativ viel verdienen kann. Aber dahinter steckt trotzdem eine Realität, nämlich die Realität einer ungeheuer hohen Produktion vor allen Dingen von Waffen, die staatlich angekurbelt wird und die dafür sorgt, dass die Wirtschaft weiter in Gang bleibt. Man kann jetzt natürlich sagen, irgendwie ist das sinnlos, irgendeines Tages wird das auch schief gehen. Tatsächlich ist aber heute der Abstand zwischen dem, was an der Oberfläche erscheint und dem was in der Wirklichkeit von Produktion, Konsum und Austausch stattfindet so groß, dass man in der Tat zu diesen Baudrillardschen Überlegungen gelangen kann. Nur, wir täuschen uns, wenn wir meinen, dass damit das Problem gelöst sei oder das Problem sich verschoben habe in ein reines Symbolproblem. Das halte ich für falsch.

Wie geht Marx selbst mit der Tatsache um, dass sein Unterbau oder sagen wir besser die reale Basis auch nur durch eine Beschreibung zugänglich ist? Wir können doch auch über die Ökonomie immer nur unter den Bedingungen der Sprache sprechen. Oder war es im 19. Jahrhundert einfach noch gänzlich unüblich, über das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit nachzudenken?

Vermutlich hätte man ihn dazu bringen können darüber nachzudenken, das ist nichts, was ihm vollkommen ferngelegen hätte. Marx hat ja schließlich auch Sprachliches, Symbolisches untersucht, wenn er über den Fetischcharakter der Ware und dergleichen spricht. Er nimmt auch nicht zufällig immer wieder Beispiele aus der Religion. Der Fetisch ist ja ein Gegenstand, der von den Leuten, die an ihn glauben, mit einer bestimmten Macht ausgestattet wird. So ähnlich, könnte man sagen, ist es mit dem Geld. Wenn das alles wäre, dann könnte man ja den Leuten einfach sagen: „schlagt euch das mal aus dem Kopf und seid aufgeklärt, dann seht ihr, dass Geld selbst überhaupt nichts wert ist. „Euer 10 Euroschein ist ja z.B. keine 10 Cent wert“. Das würde die Sache allerdings nicht aufheben, denn dieser Symbolcharakter der Phänomene ist doch nicht die Realität. Dass Sprachliches eine ungeheuere Rolle spielt, hat Marx sehr wohl gesehen, denn sonst hätte er nicht von Fetisch gesprochen.

Vielleicht noch eine kurze Bemerkung zum sprachlichen Stil der Schriften. Das klingt ja z.B. in der „Deutschen Ideologie“ häufig sehr derb und erinnert einen fast schon an Lyotard oder jemand wie Deleuze: Marx verwendet Wörter wie Fäulnis, Notdurft, die alte Scheiße, die sich wiederherstellt. War es bei den Linkshegelianer allgemein üblich so zu schreiben oder ist Marx hier tatsächlich stilbildend für spätere Generationen gewesen?

Es gibt bei den Linkshegelianer sicher Ansätze in diese Richtung, aber Marx ist dann schon noch etwas kräftiger und übertrifft das bei weitem. Seine sprachliche Begabung hat später ein bisschen darunter gelitten hat, dass er 30 Jahre lang im Britischen Museum saß und immer wieder englische Arbeiten exzerpierte. Deshalb verfügte er dann im „Kapital“ auch nicht mehr die Sprachgewalt, die er als junger Mann besessen hatte. Das macht das Buch nicht unbedeutender, dadurch ist es aber zum Teil schwerer lesbar. Weil das erste Kapitel wissenschaftlich zu kompliziert war, um allgemein verständlich zu sein, hat Marx es noch mal umschreiben müssen. Engels hat da weniger drunter gelitten. Ich fand immer ganz rührend, dass er sich häufig als einen Halbgebildeten bezeichnet hat. In einem Fragebogen schreibt Engels zu „Meine Haupteigenschaft?“ „Alles nur halb zu wissen“. Das ist sicher übertrieben, denn er war ein außerordentlich hoch gebildeter Fabrikant, aber er war eben im Unterschied zu Marx kein wirklicher Wissenschaftler. Er blieb ein wissenschaftlicher Dilettant, allerdings war er ein unglaublich guter Popularisator der Lehren von Darwin und anderen, aber er war kein wirklicher Wissenschaftler. Deswegen hat Engels z.B. auch die berühmten Feuerbach-Thesen falsch verbessert.

Wir haben über das wichtigste Gespenst bei Marx bisher noch überhaupt nicht gesprochen: den Menschen bzw. das Humane. Der Mensch unterscheidet sich für Marx bekanntlich dadurch von allen anderen Lebewesen, dass er arbeitet und durch seine Arbeit sich und seine Umwelt verändert. Laut Marx führt die Arbeitsweise in der kapitalistischen Produktion aber genau zum Gegenteil: Der Mensch wird dadurch, dass nicht die Produktion sondern der Konsum sein Wesen bestimmt, zum Tier bzw. auf seine tierischen Funktionen reduziert. Es muss also auch hier eine Form der Produktion geben, die das Menschliche wieder ermöglicht. Wie soll die aussehen?

Marx geht zwar nicht so weit, dass er sagt, früher war alles mal besser. Aber gelegentlich gibt es bei doch Marx Äußerungen, die besagen, dass z.B. der frühneuzeitliche Handwerker eben doch auch künstlerisch gearbeitet hat. Für ihn war für den mittelalterlichen Handwerker die Arbeit nicht nur abgezwungene Notdurft, etwas, das man unbedingt tun muss, um zu überleben, sondern er hat oft auch Freude an der Arbeit gehabt. Selbst so etwas wie einen Schuh oder einen Topf, einen Tisch, einen Schrank, schön zu gestalten verschaffte ihm eine Art Befriedigung seiner eigenen Menschlichkeit. Und genau das geht in dem Ausmaß verloren, wie die moderne industrielle Produktion durch Massenfertigung bis hin zum Fließband die Arbeit gleichförmiger und langweiliger macht. Das ist übrigens eine Entwicklung, die auch Adam Smith schon deutlich beschrieben hat. Er sagt einmal, die Arbeit wird immer uninteressanter, immer langweiliger und die Menschen werden dadurch auch dümmer. Denn intelligente Arbeit verlangt auf den Gegenstand einzugehen, entwickelt den Verstand, indem man sich überlegen muss, wie man etwas besser machen kann. Muss ich jetzt aber nur noch eine bestimmte Handbewegung machen oder wird mir in der Manufaktur oder in der modernen Fabrik nur eine bestimmte Reaktion auf einen bestimmten Vorfall nahegelegt, dann geht auch meine Intelligenz verloren. Interessanterweise schreibt Adam Smith in seinem „Wealth of Nations“, dass es die dringende Aufgabe des Staates sei, wenigsten dafür zu sorgen, dass die Menschen Elementarbildung erhalten, damit sie nicht so dumm werden können, wie sie es ansonsten durch die moderne Art der Produktion werden müssen. Und dann kommt Marx mit seiner Vorstellung, dass mit der Steigerung der modernen Produktion – die dadurch entsteht, dass ein kleiner Teil der Gesellschaft immerhin dazu freigesetzt wird Erfindungen zu machen und intelligente Verbesserungen der Technik herbeizuführen – immer mehr von der Arbeit entlastende Maschinen hergestellt werden, so dass es schließlich eines Tages möglich sein wird, nur noch intelligente Arbeit zu leisten. Zumindest sollte dann die sowohl physisch schwere als auch intellektuell langweilige Arbeit durch Maschinen ersetzt werden. Marx selber spricht von automatischen Maschinen, also von der modernen Automatik. Nehmen Sie z.B. die Bilder von modernen Automobilfabriken, die man heute manchmal im Fernsehen sieht. Da sieht man ja nur noch Maschinen, die die Teile zusammensetzen und dergleichen mehr leisten. An Arbeitern braucht man nur noch relativ intelligente Menschen, die die Maschinen überwachen und gelegentlich reparieren, wenn irgendwas schief geht. In diese Stadium wird die Arbeit etwas sein, was die Menschen gerne tun und auch nicht mehr diesen entfremdeten Charakter haben. So ähnlich meinte Marx das, vielleicht hat er die Entwicklungen in diese Richtung überschätzt. Aber immerhin hat er es für möglich gehalten, dass die Arbeitszeit so weit verkürzt wird, dass die Menschen immer mehr Zeit haben werden, sich allseitig auszubilden und nur noch solche Arbeit leisten zu müssen, die ihnen selber Befriedigung verschafft.

Ich dachte bisher immer, dass es Marx um die Aufhebung der Arbeitsteilung ging? Es gibt z.B. diese schöne Stelle, wo er von Robinson Crusoe spricht und dann sagt, dass sein Ideal der Arbeit so eine Art gesellschaftlicher Robinson sei.

Die Stelle an der Marx sagt, das Schlimme ist die Arbeitsteilung, der eine macht nur das und der andere nur das, eines Tages wird er dann morgens fischen und abends, weiß ich was. Kritischer Kritiker sein, ist eine ganz frühe Formulierung. Ich würde sagen, dass darf man nicht als eine wirkliche Beschreibung dessen ansehen, was er in seinen späteren Schriften eigentlich erwartet. Was er eigentlich erwartet beschreibt er in den Vorarbeiten zum „Kapital“ am deutlichsten: die Arbeit soll so intelligent werden, dass eigentlich alle Arbeit wissenschaftlichen Charakter haben wird und die Arbeitsteilung wird so erfolgen, dass sie den Menschen nicht mehr aufgezwungen, sondern von der Gesellschaft selbst vorgenommen wird. Wir sind ja heute mehr oder minder gezwungen uns weitgehend zu spezialisieren, obgleich wir auch relativ flexibel sein müssen. Um weiterhin beschäftigt werden zu können, müssen wir uns häufig in neue Gebiete einarbeiten. Marx hat sich dagegen etwas utopisch vorgestellt, dass die höchste Entwicklung der menschlichen Intelligenz in einer künftigen Gesellschaft so aussehen wird, dass jeder letztlich jede Art von wissenschaftlicher Arbeit leisten kann. Dabei hat er nie gesagt, dass die Arbeit dann nicht auch noch Anstrengung verlangen würde, aber eben eine Anstrengung, die zugleich befriedigend wäre. Als rührendes, beinahe komisches Beispiel für eine solche in sich selbst befriedigende Arbeit nennt Marx ausgerechnet das Komponieren. Als ob wir alle Komponisten werden könnten. Aber das ist sozusagen für ihn nur ein Paradigma, an dem man sieht, wie ideal er sich eine künftige Gesellschaft vorstellt, in der die Menschen nicht mehr durch passiven Konsum – natürlich müssen sie weiter konsumieren –, sondern vor allem durch ihre Tätigkeit Befriedigung empfinden. Natürlich ist das das Ideal eines wissenschaftlich tätigen Menschen, der durch seine wissenschaftliche Tätigkeit die tiefste Befriedigung empfand. Für Marx war es sicher befriedigender, wenn er ein schönes Kapitel, z.B. in seinem Band „Kritik der politischen Ökonomie“ geschrieben hatte, als wenn er von seinem Freund Engels wieder mal eine Kiste Wein geschenkt bekommen hatte. Wirklich tiefe Befriedigung erfährt man nach Marx durch die eigene kreative Leistung. Das Beispiel mit dem Komponieren nennt er vermutlich nur deshalb, um nicht seine eigenen Leistungen nennen zu müssen. Denn das wäre ihm wahrscheinlich zu unanständig erschienen.

Das klingt ja so ähnlich wie bei Rousseau: Man ist mit seiner Gegenwart nicht zufrieden, fantasiert dann so eine Art Arkadien, wo die Menschen Flöte spielen und tanzen, um daraufhin dann eine Zukunftsvision zu entwerfen, die irgendwie diesem Arkadien entspricht.

Und wo alle Menschen auf einer weit höheren Stufe dazu dann auch in der Lage sind.Marx hat sich merkwürdigerweise nie überlegt, ob es nicht eine große Anzahl von Menschen gibt, die zu einer so hier nicht hochbefriedigenden wissenschaftlichen Leistung gar nicht fähig sein werden. Im Unterschied zu Engels, der sich sehr viel mehr mit Darwin beschäftigte, hat Marx auch nie dran gedacht, dass vielleicht die Begabungen der Menschen unendlich unterschiedlich sein könnten. Übrigens ganz ähnlich wie Adam Smith. Adam Smith schreibt einmal, der Unterschied zwischen einem einfachen Lastträger und einem Philosophen erscheint uns ungeheuer, ist aber nichts anderes als eine Folge der unterschiedlichen Beschäftigung. Der eine muss eben ein Leben lang Lasten tragen und der andere sitzt in seinem Arbeitszimmer und denkt nach. Also es ist eigentlich eine schöne Utopie, zu glauben, dass alle Menschen genügend Intelligenz entwickeln können, um theoretisch hochqualifizierte Leistungen in einer künftigen Gesellschaft erbringen zu können und dann dadurch befriedigt zu sein. Um Marx an dieser Stelle etwas realistischer zu machen, habe ich gesagt, gut, nicht alle Leute können das, nicht alle erreichen in ihrer eigentlichen Arbeit diese Befriedigung, aber man kann doch vielleicht dafür sorgen, dass sie auf anderen Gebieten kompensiert werden: diese Leute müssen dann eben mehr Freizeit haben, um ihre eigentliche Befriedigung als Sportler, als Schachspieler, als Maler oder als Bildhauer, als Hobbygärtner oder was immer erfahren zu können. Das klingt realistischer. Marx hat in einigen Formulierungen einmal gesagt, in den Köpfen der Menschen würde sich das akkumulierte Wissen der Gesellschaft befinden. Diese Vorstellung, dass dann alle Universalgenies wären, erscheint uns heute mit Recht als utopisch, das waren utopische Übertreibungen bei Marx, die sympathisch aber natürlich völlig unrealistisch sind. Es gibt nur einen wirklich bedeutenden großen Marxisten, der ganz ähnlich gedacht hat, das war Leo Trotzki. Der hat einmal davon gesprochen, dass die Menschen der Zukunftsgesellschaft so sein werden wie die großen genialen Künstler und Wissenschaftler der Renaissance. Also ein Leonardo wird dann sozusagen nur ein kleines Beispiel sein für das, was alle sein werden.

Lassen Sie uns vielleicht kurz noch über das Verhältnis Marx - Hegel sprechen. Daran wie man dieses Verhältnis bestimmt, erkennt man ja bekanntlich die Form des gewählten Marxismus. Sie messen dem Einfluss von Hegel auf Marx große Bedeutung zu und zwar in der Form, dass Marx kein echter Marxist aber Hegel auch nie ein richtiger Hegelianer, also Idealist, gewesen sei.

Na ja, ich denke der entscheidende Unterschied zwischen beiden ist zunächst einmal, dass Hegel in der Tat davon ausging, dass die welthistorische fortschrittliche Entwicklung in der Gegenwart im Prinzip schon an ihren Endpunkt angelangt sei. Das heißt also, dass die Menschen, die in einer modernen aufgeklärten Gesellschaft leben, noch dazu in einem aufgeklärten absolutistischen Staat wie dem preußischen – also aufgeklärt aber durchaus noch mit Monarchie, wobei der Monarch ja nur ein Symbol war, während die eigentlichen staatlichen Leistungen von der Bürokratie, also von ausgebildeten intelligenten Beamten erbracht werden – dieses Ende erreicht haben. Und damit sei dann auch so etwas wie die Vollendung dessen erreicht, was als Fortschrittsgedanke im Christentum enthalten ist, dass nämlich am Ende so etwas wie das absolute Wissen stehe, dass die Religion aufhören wird ein bloßes Geglaubtes zu sein, sondern zu einem absoluten Wissen geworden ist. Das hat Hegel nicht ganz so offen zugegeben, aber immerhin spricht er ja davon, dass die Philosophie aufhört, nur Liebe zur Weisheit zu sein, um Weisheit zu werden. Also dann ist man irgendwo am Ende angelangt. Bei Marx wird diese Vision eines Endes dagegen in die Zukunft verlegt. Wenn wir gerade davon gesprochen haben, dass Marx´ Entwurf utopische Gedanken enthält, dann ist seine Zukunftsvision sowohl eine Zukunftsvision des weit fortgeschrittenen Erkenntniswissens, also der Wissenschaft, als auch der Produktion. Es heißt auch bei Marx, der Mensch ist Schöpfer seiner selbst, damit meint er natürlich auch den Menschen als Schöpfer des vollendeten Menschen. Das wäre sozusagen eine Zukunftsvision, die im Gegensatz zu Hegel, nicht im Rückblick auf das bereits Erreichte, sondern im Vorausblick auf das künftig zu Erreichende formuliert wurde. Es gibt gar keinen Zweifel, dass diese Vision stark von Hegel beeinflusst war und dass Marx Hegel auch ungeheuer bewundert hat. Marx hat auch die Denkform – nämlich das dialektische Denken von Hegel – übernommen. Die Dialektik hat er auch noch ausdrücklich in seinem „Kapital“ als eine wichtige Erkenntnismethode herangezogen, allerdings ist diese Denkform nicht unbedingt identisch mit diesen utopischen Zukunftsvisionen. Dialektisches Denken heißt nur, dass, was in der Wirklichkeit als Widerspruch erscheint, so etwas wie die Dynamik der Bewegung ist, die zu einer Veränderung der Wirklichkeit hinführt. Und diese Art von dialektischem Denken, die verlangt einfach, sein eigenes Denken beweglich zu machen. Ich würde mal sagen, das Musterbeispiel dafür ist die kapitalistische Produktionsweise, die Marx ja keineswegs moralisch besonders großartig findet, sie aber trotzdem als die unabdingbar notwendige Voraussetzung für eine bessere, höhere Gesellschaftsformation beschreibt. Nur dadurch, dass durch Kapitalakkumulation, Kapitalkonzentration, letztlich auch Ausbeutung der Arbeiter, eine immer höhere Produktivität der Arbeit herbeigeführt wird, entsteht so etwas wie die Voraussetzung für eine neue Produktionsweise, in der dann all das möglich sein wird, was Marx vorausgesehen hat. Das ist eben die Dialektik – Dialektik heißt ja auch, um es ganz schlicht zu sagen, das Nützliche der durch Gegensätze erzeugten Dynamik. Nicht zufällig wählt Marx als Beispiel gerne den Mephistopheles. Das ist der Geist, der stets das Böse will und doch das Gute damit zustande bringt. Wenn es um den welthistorischen Fortschritt geht, dann ist sogar die härteste koloniale Ausbeute gerechtfertigt. Und dann zitiert er noch diese berühmte Stelle aus dem „West-östlichen Divan“: „Sollte diese Qual uns quälen, da sie unsre Lust vermehrt? Hat nicht Myriaden Seelen Timurs Herrschaft aufgezehrt?“ Das ist eine Anspielung auf den Timur Lenk. Timur der Lahme war ein mittelasiatischer Gewaltherrscher, der mit seiner Ausbeutung ganzer Teile Asiens schließlich am Ende eine großartige Stadt, nämlich seine Residenzstadt Samarkand errichtet und damit sozusagen so eine Art Rechtfertigung für die Gewalttätigkeiten geliefert hat. Tamerlan steht bei Goethe als eine Art Tarnwort für Napoleon. Auch Napoleon hat Europa verwüstet und hunderttausende Menschen umgebracht, aber er hat dadurch z.B. die deutsche Kleinstaaterei zerstört, er hat den Code Napoléon in große Teile Europas gebracht und somit praktisch die moderne Gesellschaft Europas vorangetrieben und das macht ihn legitim. Dialektik ist also eine ziemlich harte Theorie, die auch so etwas wie die Rechtfertigung der Gewalt als Mittel zur fortschreitenden Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse enthält.