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Intro/ Interview/ Biografie/

„Woran erkennt man ein Gespenst? Daran, dass es sich selbst nicht im Spiegel erkennt. Nun geschieht das aber beim Handel der Waren unter sich. Die Gespenster, welche die Waren sind, verwandeln die menschlichen Produzenten in Gespenster.“
Jacques Derrida

Parasiten haben kein Erhabenes

In einem Ihrer frühen Aufsätze mit dem Titel „Warenästhetik und Angst“ variieren Sie einen berühmt-berüchtigten Satz von André Breton. Ihre profane Variante lautet: „Der einfachste surrealistische Akt ist es, in ein Geschäft zu gehen und zu kaufen, was man nicht brauchen kann“. War dieses Erkennen der Parallele zwischen Ästhetizismus und Kaufhaus die Initialzündung für die „Kritik der Warenästhetik“?

Ach, das ist schwer zu sagen, genau gesagt, ich erinnere mich gar nicht, was eigentlich die Initialzündung war. Seit meiner frühen Kindheit hab’ ich schon ein Gespür für die Art, wie uns irgendeine schöne Seite der Sache hingedreht wird und man sich dann sozusagen die Schattenseite einkauft. Jeder von uns hat, glaube ich, solche Erfahrungen gemacht. Den Begriff „Warenästhetik“ habe ich schon 1963 eher nebenbei in einer Materialanalyse geprägt, bei der es, wenn ich mich recht entsinne, hauptsächlich um Knäckebrotreklame ging. Zur Zeit der Studentenbewegung erhielt ich dann in Berlin einen Lehrauftrag bei der Hochschule für Grafik-Design, wo Werber studierten. Inzwischen gehört das alles zur Hochschule der Künste. In dieser Höhle des Löwen gab es einen Professor, der behauptete, man könne auch grafisch kommunizieren ohne die Leute zu manipulieren, und der holte mich zu Hilfe. Dieter Ruckhaberle verwickelte mich in Aktivitäten der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst. Ich glaube, das waren wichtige Impulse. Frucht solcher Engagements war dann die „Kritik der Warenästhetik“. Ein anderer Impuls war, dass die linke deutsche Intellektualität Anfang der 70er Jahre wie wild über Kunst als Ware diskutierte, was dann auch die germanistischen Seminare in Flammen gesetzt hat. Auf diese Weise bekam ich auf Betreiben der Studenten meine erste Gastprofessur in Marburg. Ich sollte in diese Diskussionen irgendwie Rationalität reinbringen. Dem grandiosen Satz, den Sie zitierten, bin ich übrigens zuerst bei Sartre begegnet, lange Zeit Stern an meinem Himmel, dann Gegenstand meiner ersten Kritik.

Peter Bürger hat später bemerkt, dass der von den Surrealisten gepriesene Zufall selbst eine ideologische Kategorie sei. Man könne die Großstadt zwar wie einen Dschungel durchstreifen, übersähe dann aber, dass diese großstädtische Natur ein Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse sei. Haben alle Theorien des Flanierens und Sammelns von Baudelaire über Breton bis hin zu Benjamin den Fetischcharakter der Ware übersehen?

Sie haben ihn nicht übersehen, sondern ihn sozusagen abgelöst von seiner Ökonomie. Der Fetischcharakter der Ware präsentiert sich ja als ein selbstständiges Reich des Ästhetischen und hat seinen eigenen Reiz. Man könnte das wirklich als eine Art Kunstwelt rein für sich würdigen, sogar mit ganz traditionellen ästhetischen Kategorien: der Kategorie des Scheins als der Realisierung, wenn man so will, des wahren Guten. Und in dieser Welt haben sich diese Autoren bewegt, in der Regel mit dem Rücken zur Ökonomie und mit dem Rücken zu den gesellschaftlichen Verhältnissen. Diese Welt ist faszinierend und mich hat das zunächst auch fasziniert. Inzwischen stößt mich diese Faszination ab, denn mich hat dann etwas noch viel mehr fasziniert, nämlich den Zusammenhang herauszufinden. Inzwischen gibt es für mich nichts Leidenschaftlicheres als den Zusammenhang herauszufinden.

„Kritik der Warenästhetik“ ist nicht nur eine wunderbares Buch, sondern es hat auch eine lange Tradition abgeschlossen. Seither ist zumindest kein Autor mehr mit dem Anspruch angetreten, eine Ästhetik oder zumindest eine ästhetische Theorie zu wagen. War Ihnen damals klar, dass Sie eines dieser „letzten Bücher“ geschrieben haben?

Als ich vor einigen Monaten auf einer Tagung in Peking war, wurde ich zu einem Seminar eingeladen – schon wieder an ein germanistisches Seminar – und mit einer Überraschungsfrage konfrontiert. Ich sollte dort eine Vorlesung halten und zwar über den Stand der Ästhetik. Und ich hab’ improvisiert, also das ist ja „der Esel geht aufs Eis“.

Was kam dabei heraus?

Dass es heute eigentlich keine Ästhetik mehr geben kann. Das ist tatsächlich so. In gewisser Weise hat die große Zurücknahme, wie sie Thomas Mann im „Doktor Faustus“ schildert, stattgefunden. Von der Verwirklichung des Ideals, dem Kern der klassischen Ästhetik, kann keine Rede mehr sein. Als letzte Ideologie ist uns geblieben, dass man alles und jedes, indem man es aus dem Zusammenhang nimmt und für sich wirken lässt, zum Ästhetikum machen kann. Das ist verkleideter Nihilismus und nichts anderes, denn eine Ästhetik ohne Substanz ist keine.

Es gibt, glaube ich, kaum jemand, der sich so intensiv mit dem Anfangskapitel des „Kapital“ auseinandergesetzt hat wie Sie. Das handelt – wie auch Ihre „Kritik“ von der Ware und von ihrem Doppelcharakter als Gebrauchswert und Tauschwert oder von Gut und Böse. Und wie so häufig weitet sich der Bereich des Bösen immer mehr aus...

Vorsicht, da ist ein Problem, das hat mit Gut und Böse gar nichts zu tun.

... und das Gute verschwindet unter einer Oberfläche des Scheins. Die Rückgriffe bei Marx, aber auch bei Ihnen, auf theologisches Vokabular sind kaum zu übersehen. Liegt das daran, dass der Kapitalismus in seiner Spätphase geradezu kultischen Charakter angenommen hat?

Davon wird jetzt ziemlich viel geredet. Ich weiß nicht, ob das sehr viel bringt. Zunächst einmal, Tauschwert und Gebrauchswert haben mit gut und böse nichts zu tun. Der Gebrauchswert eines Revolvers ist weder gut noch böse. Wenn ich Sie jetzt erschießen würde, also so einen surrealistischen Akt machen würde, das wäre gewiss sehr böse. Aber der Tauschwert, dass man, jetzt mal klassisch gesprochen, die gesellschaftlich aufgewandte Arbeit denen, die sie aufgewandt haben, in irgendeiner Weise entgelten muss, ist nicht besonders böse. Sie wollen ja auch, dass Sie für Ihre Tätigkeit irgendwas bekommen. Also, mit gut und böse kommt man hier nicht weiter. Den Kapitalismus als Kult zu betrachten, kommt mir wie die neueste Variante vor, die Dinge nicht im Zusammenhang zu betrachten. Kapitalismus ist kein Kult oder wenn, dann ist der Kult sozusagen ein Effekt, denn es herrscht nun einmal das Gesetz des Profitmachens. Und da der Teufel immer auf den größten Haufen scheißt, folgt dem Profit das Einverständnis. Die herrschende Politik befleißigt sich geradezu panisch, dem Kapitalismus zu dienen. Hier beginnt der Kult. Doch im Kern findet kein Kult statt, hier geht es knallhart um Geld und Macht. Man könnte sich natürlich fragen, was sind das für Leute, die im Zweifelsfall bereit sind, für den Profit im Extrem jedes Verbrechen zu begehen? Ist dieses Interesse am Profit nicht doch ein Kult? Aber ich glaube, das führt zu nichts, denn die Akteure von Macht und Geld befinden sind ja zusammen mit anderen Akteuren von Macht und Geld wie in einem Dschungel. Hier gilt Fressen oder Gefressenwerden. Ich weiß nicht, ob es sehr viel bringt, das als Kult zu bezeichnen. Ein Kult ist die Verehrung von etwas als herausgenommen aus jeder Art von Verwertung. Wenn wir einen Park anlegen oder bei einem Baum sagen, der darf nicht gefällt werden, das ist Kult. Insofern ist Kult etwas viel Umfassenderes und Ursprünglicheres als so genannte Religion. Kult ist, dass man etwas verehrt, für sich stehen lässt, dass man es von der Instrumentalisierung ausspart. Daher kommt übrigens das Wort Park. Es kommt vom selben Wort wie Sparkasse und meint das Ausgesparte, sozusagen die nicht verbrannten Hölzer und die unverbauten Böden. „Kapitalismus als Kult“ ist eine jener Oberflächebotschaften, mit denen man immer so etwa sechs Monate lang Medienaufmerksamkeit erregen kann, bis dann die nächste Botschaft kommt. Also, ich warne davor.

Aber die Oberflächen sind unser Problem. Und es ist der Teufel, der traditionell den Schein produziert, er schafft uns eine Oberfläche des Truges.

Ich halte es da mit Oscar Wilde: Es sind nur die oberflächlichen Leute, die nichts auf die Oberfläche geben. Ob das jetzt aber der Teufel sein muss?

Ich liebe die Oberflächen, nicht dass wir uns falsch verstehen...

Ja, ich liebe sie auch.

... denn ich glaube, sie sind das Einzige, was wir haben.

Nicht ganz. Sagen wir so: Alles Liebenswerte ist zunächst einmal eine Erscheinung, die uns gegenübertritt und vielleicht ist sie immer zur Hälfte aus Traum oder aus einem Verlangen gemacht, das sich selber als sein eigenes Spiegelbild imaginär entgegentritt. Aber wir wissen doch nur zu gut, dass wir mit diesem Spiegelbild nicht auskommen und in irgendeiner Form auch die Sache selbst gefragt ist. Lassen Sie uns diesen Widerspruch sozusagen als Achse einziehen und nicht die Oberfläche aus dem Zusammenhang reißen. Jedenfalls diese Sprüche mit dem Teufel und so, die bringen wenig. Was mich bei der „Kritik der Warenästhetik“ interessiert hat und immer noch interessiert, liegt, wie ich glaube, für jeden auf der Hand. Wie ist es möglich, uns zu Mittätern eines Zustands zu machen, in dem wir unsere Bedürfnisse nur auf eine Weise befriedigen können, die uns zugleich immer auch um das bringt, worum es uns ging. In gewisser Hinsicht sind wir die Dummen. Diese ganz klassische Frage interessiert mich am meisten, und ich gebe zu, das hat einen idealistischen Zug. Ich halte sehr viel davon, dass es so etwas gibt wie zumindest in die Richtung von gemeinsamer Selbstbestimmung zu gehen, was man herkömmlich Emanzipation nennt. Wenn man dagegen den Teufel einführt und diese Dialektik, den Widerspruch zwischen dem Schein und dem, was ich in alter philosophischer Terminologie die Sache selbst genannt habe, herausnimmt, dann begeht man eigentlich erst die Sünde, die man anklagt.

Womit wir wieder bei der Tatsache angelangt wären, dass etwas geschichtlich Gewordenes, nämlich ein politisch-gesellschaftlicher Zustand wie ein Naturzustand erlebt wird. Wir fliegen, das war eines Ihrer Beispiele in der „Kritik“, praktisch wie die Bienen auf einer bunten Blumenwiese und laben uns an deren angeblichen Wohltaten. Sie sagen, in Wirklichkeit sei das Konsumterror und reproduziere nur das gesellschaftliche Verhältnis von Herrschaft und Unterdrückung. Wie kann eine Kritik der Warenästhetik dem entgegenwirken?

Konsumterror war nicht mein Begriff. Ich hab’ mich eigentlich scharf gegen diese aufgeblasenen Erklärungen gewandt, auch gegen Pasolini. Bei Begriffen wie „Konsumfaschismus“ ist schon wieder der Zusammenhang gekappt. Schon wieder wird sozusagen die Scheinseite einseitig für Erklärungen, diesmal für kritische, ausgebeutet. So würde ich nicht sprechen. Schauen Sie doch einmal, wie die „Kritik der Warenästhetik“ eigentlich gebaut ist. Der Grundgedanke ist folgender: Wenn Sie eine Ware kaufen, kaufen Sie die Ware, um sie zu gebrauchen. Das Dumme dabei ist nur, dass der Warencharakter nach der Sache, um die es dabei geht, greift. Wenn ich eine Blume kaufe, kaufe ich eine Blume und nicht eine Ware. Dass die Blume eine Ware ist, ist sozusagen die Bedingung, dass ich sie kriege. Ich muss Geld dafür ausgeben. Sie wissen, diese Blumen kann man so behandeln, dass sie frisch aussehen, aber sobald Sie die zu Hause haben, fangen sie an zu hängen. Die werden mit irgendwelchen Chemikalien kurz aufgeputscht, sehen wunderbar aus und halten etwa zwei, drei Stunden. Das kann ich nicht wissen. Der Gebrauchswert dieser Blume, sagen wir mal, dass sie drei Tage hält, kann es also nicht sein, was mich zum Kaufen dieser Blume bringt, sondern nur mein Glaube, dass die Blume diesen Gebrauchswert hat. Das ist wirklich einer der Fälle, wo wir auf reine Subjektivität zurückgeworfen sind. Allerdings nicht ganz. Meiner Subjektivität kommt dabei der schöne Schein der Ware entgegen. An dem, was wir zu sehen bekommen, entzündet sich die Vorstellung, die Ware sei, was sie uns vorstellt. Das ist der Grundvorgang. Den beutet die Warenästhetik aus. Das heißt, sie greift ein in den Vorgang, dass wir uns etwas von einer Sache versprechen. Diesen Mechanismus wollte ich ins allgemeine Bewusstsein heben, was immer man dann damit anfängt. Eines kann man danach nicht mehr ohne weiteres machen, nämlich das, was man heute Konsumismus nennt. Wobei auch die Kritik am Konsumismus ein bisschen ausgelüftet werden müsste. Auch da gibt es viele Sprüche, die nur Phrasen sind. Zum Beispiel Sätze wie - auch Adorno schreibt solche Sätze –, dass nur noch Tauschwert konsumiert werde. Das ist Unsinn.

Wir stehen allerdings nach wie vor ratlos vor dem Phänomen, das schon Marx frustriert hat, dass nämlich mit der Beschreibung und Erkenntnis des Gespenstes z.B. der Ware, dieser Schein sich eigentlich auflösen sollte. Die Kritik selbst verändert aber laut Marx überhaupt nichts. Hat die Systemtheorie demnach recht, dass wir es mit einer Selbstbewegung, in diesem Fall des virtuellen Kapitalismus, zu tun haben, einer unaufhaltsamen Ausbreitung, bei der sich jegliches Eingreifen erübrigt?

Also, der Satz, die Kritik verändert nichts, ist so nicht haltbar. Der Marx meint was ganz anderes. Noch mal, wir haben hier eine Rose und sagen, diese Rose ist meinetwegen zwei Euro wert, als hätte sie irgendwo außer dieser Farbe, dem Geruch, dieser Substanz auch noch einen so genannten Wert. Marx hat die Aufmerksamkeit auf die buchstäbliche Verrücktheit gelenkt, die darin besteht, privat-arbeitsteilig verausgabte Arbeitskraft, um unser Lebensnotwendiges herzustellen, so auszudrücken, als hätten die einzelnen Produkte eine Substanz in sich, die wir Wert nennen. Dieser Zusammenhang verschwindet natürlich nicht durch die Kritik. Aber bezogen auf Warenästhetik, kann die Kritik unter Umständen zu gewissen Veränderungen führen, die allerdings auf Dauer kaum am Lack kratzen mögen. So war es zum Beispiel, als die „Kritik der Warenästhetik“ Furore gemacht hat. Ursprünglich war das ein Vortrag, der kam dann im Rundfunk, dann im „Kursbuch“, schließlich habe ich ihn zum Buch ausgearbeitet, das Auflage um Auflage erfuhr. Das hat mit dazu beigetragen, dass es zum Beispiel plötzlich eine paradoxe Art von Markenartikeln gab, nämlich Artikel ohne Warenästhetik. Das sah in verschiedenen Ländern verschieden aus. In Schweden, wo das Buch ebenfalls erschienen ist, gab es einen Typ von Waren, die alle weiß verpackt waren, und auf der Verpackung stand einfach, was drin war. Diese Produkte waren qualitativ nicht schlecht und außerdem noch billiger als die, die so vielversprechend verpackt waren. Das Buch hat für eine Weile tatsächlich Modifikationen im Umgang mit der Warenästhetik befördert. Aber Sie haben insofern natürlich recht, dass die Kritik am Gesamtmechanismus nichts ändert, solange die strukturellen Machtverhältnisse unverändert bleiben. Nach wie vor wird an den Angelhaken irgendein Köder gehängt und nach wie vor sind wir in unserer riesigen Mehrzahl eben diejenigen, die diesen Angelhaken mit dem Köder schlucken sollen. Daran kann man mit Kritik allein nichts ändern. Aber der Umgang mit dem Warenzauber lässt sich ändern, wenn es gelingt, in die ästhetischen Kräfteverhältnisse einzugreifen, die sich in Faszination niederschlagen. In manchen Konstellationen kann man es so weit bringen, dass das, was bisher als stärkste Kraft wirkte, um die Zustimmung der Menschen zu diesen Verhältnissen hervorzurufen, zu etwas wird, an dem sie die Verhältnisse selber erkennen. Die Verpackung und der Werbespot sind dann nicht länger das, was uns überzeugt, sondern wir lesen sie wie eine Schrift, aha, so wird es gemacht, so wird geangelt, das ist der Köder.

Nun sah es zumindest im 20. Jahrhundert lange Zeit so aus, als gäbe es eine gewichtige Alternative zum Kapitalismus, eine Welt „Jenseits von Gut und Böse, „Jenseits von Gebrauchs- und Tauschwert“. Das 21. Jahrhundert scheint momentan eher in das manisch-depressive Stadium einzutreten. Bitte keinen Sozialismus mehr, und wie das Jenseits des Kapitalismus aussehen könnte, wissen derzeit nicht einmal Aktivisten wie Michael Hardt und Toni Negri. Was schlagen Sie vor?

Schauen wir mal, was die Welt sich selber vorschlägt. Wenn mich nicht alles täuscht, sind die Visionen, die über den Kapitalismus hinauszielen, gegenwärtig auf jeden Fall frischer als in den letzten 25 Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Wenn Millionen Menschen sagen, die Welt ist keine Ware, dann bringt dieser Satz schon ein Gewicht auf die Waagschale. Er meint ja genau die Rückforderung, wenn man so will, des Bodens, der Luft, der Dinge, der Düfte, des Kontakts zur Natur. Pathetisch hat schon der junge Marx von der >Wiederauferstehung der Natur< gesprochen. Die Welt, die keine Ware ist, das wäre eine solche Wiederauferstehung. Diese Losung birgt ein ungeheures utopisches Potenzial. Es trifft also nicht zu, dass zu Beginn dieses Jahrhunderts das Hinausgreifen übers Bestehende gelähmt oder verschwunden wäre. Im Gegenteil, es nimmt vielleicht ganz naiv neue Züge an. Jene „neue Internationale“, von der Derrida gesprochen hat und die er sich als ein weltweites Zusammenwirken kritisch-verantwortungsbewusster Intellektueller vorgestellt hat, seit zehn Jahren nimmt sie Form an, aber bezogen auf Tausende und Abertausende von Gruppen in allen Teilen der Welt, die versuchen, über die Verhältnisse hinauszugreifen. Was daraus wird, wissen wir nicht, aber man kann nicht sagen, dass es sie nicht gibt. Es geht also nicht bloß manisch-depressiv zu.

Man könnte auf der anderen Seite Fukuyama zitieren.

Natürlich, Fukuyama ist die andere Seite, Fukuyama oder damals, wer war das, unser damaliger Arbeitsminister, der gute alte Norbert Blüm mit seinem „Marx ist tot, Jesus lebt“. Jesus ist mindestens so tot wie Marx und Marx mindestens so lebendig wie Jesus. Es kommt sogar vor, dass die beiden wie zwei Seiten einer Medaille aufeinander verweisen.

Nun kam aber die Kritik am sozialistischen Modell Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre vor allem von der Linken selbst. Es gab ja tatsächlich auch überzeugende Gründe für diese Kritik: Die Herrschaft des Diskurses wurde ins Feld geführt, der Tod des Menschen als erkenntnistheoretisches Subjekt oder, um in der Sprache der Ästhetik zu bleiben, der Tod des „Ich denke“. Kann man unter diesen Umständen überhaupt noch von „Modellierung der Sinnlichkeit“ oder „Technokratie der Sinnlichkeit“ sprechen, wie Sie das getan haben?

Das ist schon wieder kompliziert. Sie zitieren einen bestimmten Diskurs. Der hatte seine Zeit, die übrigens schon vorbei ist. Ein Diskurs dieser Art ist das On-dit des Tages. Eines Tages, der vielleicht drei Jahre dauert oder zwei oder manchmal noch kürzer. Lassen Sie mich versuchsweise den „Tod des Menschen“ konfrontieren mit der Antwort, die Marx gegeben hat auf die alte Frage, was der Mensch sei: Im Unterschied zum Tier ist das Menschsein uns Menschen nicht angeboren. Angeboren ist uns nur das biologische Substrat, die Möglichkeit, uns unter Menschen zu Menschen zu machen. Das, was das Menschliche am Menschen ausmachen kann, wartet auf uns, wenn wir „zur Welt kommen“, in eben dieser Welt: Was wären wir ohne Sprache, was wären wir ohne die Gesamtheit der Formen zwischen uns und der umgebenden Natur, unseren Werkzeugen, unseren Institutionen. Was wären wir ohne das, was wir Kultur nennen, die Formen der Gesellung und so weiter? Das gelangt alles erst nach der Geburt an uns, wir sprechen daher von „postnataler Hominisation“. Dieses Menschwerden ändert sich mit den Verhältnissen. Doch wie könnte es als solches sterben? Können Sie mir das erklären? Menschsein ist nichts Substanzielles, nichts wesenhaft Ewiges. Menschsein ist radikal in Geschichte eingesenkt, mit Haut und Haaren. Wie könnte diese Conditio humana sterben? Kurzum, die These vom „Tod des Menschen“ kommt entweder von Nachzüglern, die wie Rip van Winkel hundert Jahre verschlafen haben, oder sie ist von einer Dummheit, die man eigentlich nur mit Gramsci als Lorianismus bezeichnen kann. Lorianismus, das ist das hochgestochene Blech einer bestimmten Intellektuellengattung. Der losgelassene Intellektuelle des Marktes kann alles behaupten. Jenes Projekt „Mensch“ aber, wie wir es spätestens von Marx verstehen gelernt haben, kann nicht sterben. Wohl können wir uns und unsere Lebensgrundlagen wechselseitig vernichten. Aber nur wenn man für „Mensch“ eine Art metaphysischer Norm hat, kann man sagen, jetzt ist eine andere Norm dran. Dann ist die alte Norm gestorben und eine neue da. Das ist ein Vorgang, der sich in den Jahrhunderttausenden immer wieder ereignet hat. Und der wird sich auch schon bald wieder ereignen. Aber der „Tod des Menschen“, das ist nur Gequatsche.

Der arme Foucault. Nehmen wir ein Beispiel wie die Sprache. Man kann natürlich sagen, dass mir die Sprache erst die Möglichkeit gibt, bestimmte Dinge auszudrücken. Das System der Sprache geht mir also voraus, gibt mir strukturell bestimmte Möglichkeiten, etwas zu sagen, aber nimmt mir auch strukturell bestimmte Möglichkeiten. Das war wohl auch der Punkt, an dem man angefangen hat, Kritik am sozialistischen Modell zu üben. Es ist ja bezeichnend, dass die Kritik eher von Autoren wie Foucault, Deleuze, Baudrillard, aber auch Derrida ausging, die doch eher dem linken Lager zuzurechnen sind. Man hatte begonnen, das eigene Scheitern zu reflektieren und sich die Frage zu stellen: Warum sind wir eigentlich gescheitert? Das war ein Prozess, der sehr lange angehalten hat und ich würde behaupten, dass er noch andauert.

Ja, aber auch hier muss man die Dinge wieder entwirren. Unsere französischen Linken, die dann die Postmoderne mit aus der Taufe gehoben haben, fanden sich einer bestimmten, fest formierten Kommunistischen Partei gegenüber, die lange Zeit geistig-politisch das Sagen hatte. Das ist etwas, das wir in Deutschland gar nicht kannten, weder im Osten noch im Westen. Gegen diese kulturelle Hegemonie einer vom Stalinismus gezeichneten Partei – nicht zu verwechseln mit der befehlsadministrativ verfahrenden „Hauptverwaltung Ewiger Wahrheiten“, wie Havemann die auf Zwang setzende Ideologieherrschaft der DDR genannt hat – mussten diese Intellektuellen andenken. Mir wäre es als Franzose nicht anders ergangen, und im geteilten Deutschland ist mir die entsprechende Doppelfront nicht erspart geblieben, auch wenn die Situation mit der französischen kaum vergleichbar war. Das ist eine andere Geschichte. Aber jetzt noch einmal zurück. Ich zitiere Ihnen einen Satz von Marx und dann können Sie versuchen, ob dieser Satz übertroffen werden kann durch irgendeinen Spruch der von Ihnen Genannten. Marx hat nämlich, spätestens als er mit Hand anlegen musste, um sein Hauptwerk ins Französische zu übersetzen, im Ansatz eine linguistische Wende vollzogen. Aus ähnlicher Erfahrung heraus bin ich überzeugt, dass er dabei Höllenqualen erlitten hat. Was er für die Dinge selbst hielt, entpuppte sich als das, was er auf Deutsch darüber hatte sagen können. Vieles von dem konnte man aber auf Französisch nicht sagen. Man war sozusagen zunächst sprachlos und musste sich zuerst eine Stellung hinter den Sprachen aufzubauen versuchen, von der aus man nun das Ganze auf Französisch reformulieren konnte. Das muss sehr, sehr schwierig für ihn gewesen sein. Der französische Übersetzer des „Kapital“, ein Germanist namens Lefebre, nicht der berühmte Henri, hat gesagt, dass das Marx seine linguistische Unschuld gekostet habe. Und in der Tat lässt sich bemerken, wie Marx von da an mehr und mehr auf Sprache reflektiert. Er stößt dabei auf alle möglichen Sachen, die man später im zwanzigsten Jahrhundert groß ausposaunt hat: Auf das Problem zum Beispiel, dass wir oft ein und dasselbe Zeichen für ganz unterschiedliche Bedeutungen gebrauchen und dass das eine Art Falle ist, in die man tappen kann; oder das Problem, dass wir blind unsere eigenen Zugriffe auf die Dinge als deren objektive Eigenschaften abbilden. Das Ganze kulminiert in einem Satz, den man auf sich wirken lassen muss: „Es wird einem Schaf schwerlich in den Sinn kommen, dass es essbar ist.“ Marx hat damit etwas ausgesprochen, was dann im linguistic turn des zwanzigsten Jahrhunderts erst richtig in die Breite und in die Tiefe ausgearbeitet worden ist. Aber wohlgemerkt, das war Marx, nicht die marxistisch-leninistische Ideologie der Kommunistischen Partei Frankreichs um 1950. Viele der intellektuellen Revolten in Frankreich waren Revolten gegen deren Hegemonie, die in ihren Gehalten übrigens wiederum auch bis zu einem gewissen Grad unselbstständig war, eine Art epigonaler Stalinismus, wie ihn ein Historiker aus der vormaligen DDR im Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus als typisch für Kommunistische Parteien im Westen beschrieben hat. Dieser Stalinismus war ein Import aus der Sowjetunion, die, bei aller Widersprüchlichkeit, im Ernst kein marxistisches Gebilde sein konnte, sondern ein Entwicklungsland, das sich im Zeichen der roten Fahne mit staatlich-repressiven Mitteln industrialisierte. Soweit das als Marxismus galt, konnte man nicht gut Marxist sein. Genau das hat Derrida 94 in Amerika gesagt. Aber er fügte sofort hinzu: Seit das weg ist, muss man Marx lesen.

Derrida hätte wahrscheinlich gesagt, der Stalinismus sei eines der Gespenster von Marx.

Ich bin mir da nicht so sicher. Marx hielt es für ausgeschlossen, in einem Entwicklungsland – ohne die Voraussetzungen eines entwickelten Kapitalismus und moderner Bürgerlichkeit, ohne Französische Revolution, ohne Menschen- und Bürgerrechte – zu so etwas wie einem Sozialismus zu kommen. „An allem ist zu zweifeln“, war sein Lieblingsspruch. „Marxens Gespenster“ sind andere. Er war nicht ganz gefeit gegen die Vorstellung eines substanziellen Dinges an sich, das sich gleichsam direkt fassen ließe, ungebrochen durch kulturell sprachliche Vermittlungen. So sieht das Gespenst aus, die „ontologische Heimsuchung“, für die Derrida dann einen Begriff geprägt hat, den man auf Deutsch gar nicht nachmachen kann: die „hantologie“, die nach ontologie klingt und sich von hanter, umtreiben, spuken, herleitet.

So in etwa „Lehre von der Heimsuchung“.

Ja genau, das hat aber mit Stalin nicht viel zu tun und sucht im Übrigen den gesunden Menschenverstand von uns allen heim. Aber noch mal zurück. Als diese ideologische Festung gefallen war, hat der vormalige, ganz unpolitisch scheinende Gegner Derrida gesagt, man müsse heute nichts so dringend einer Relektüre unterziehen wie z.B. das „Kommunistische Manifest“. Das war Derrida 94 in Amerika. Und dann hat er zur Bildung jener Internationale neuen Typs aufgerufen. Diese Logik kann man doch verstehen. Ein in Marxschen Begriffen völlig paradoxes Gebilde wie die Sowjetunion, hat in der Geschichte geleistet, was es leisten konnte. Unter furchtbaren Opfern hat sich da ein Land in die Moderne katapultiert, und als das geschafft war, ist der marxistisch-leninistische Überbau wie eine Blase geplatzt. Das Projekt der nachholenden Schnellmodernisierung eines riesigen Landes, immerhin des größten Flächenstaates der Welt, hat diesem Gebilde überhaupt erst sein Existenzrecht gegeben. Nach meiner Überzeugung kann man übrigens dieses Wesen, diese Sowjetunion und ihre kurze Karriere in der Geschichte von kaum 70 Jahren, nur mit Marxschen Begriffen verstehen. Von wegen, dass das eine Widerlegung von Marx wäre! Schauen Sie, als in Russland die Oktoberrevolution gesiegt hatte, schrieb ein junger italienischer Sozialist begeistert, das sei eine „Revolution gegen "Das Kapital". Gemeint war aber nicht der Kapitalismus, sondern das Hauptwerk von Karl Marx. Der junge Schreiber war glühender Anhänger dieser Revolution, wie die meisten Intellektuellen damals, das kann man auch verstehen, und glaubte, Marx sei in seinen geschichtsmaterialistischen Annahmen widerlegt. Dieser junge Sozialist war kein anderer als Antonio Gramsci, der spätere Gründungsvorsitzende der Italienischen Kommunistischen Partei. Er hat seinen Irrtum später bitter gebüßt, aber vielleicht ist Irrtum das falsche Wort. Er hat geglaubt, Recht hätten diese revolutionären Enthusiasten, die sich daran machten, die von Marx als materielle Voraussetzungen des möglichen Sozialismus behaupteten Bedingungen zu überspringen. Man konnte sie aber leider nicht überspringen, weder in Russland noch in China. Und man kann sie auch sonst nicht überspringen. Das meine ich, wenn ich sage, dass man diese Phänomene eigentlich nur mit Marx richtig denken kann, ohne wiederum dem Zeitgeist Tribut zu zollen.

Lassen Sie mich noch einmal ein bisschen Zeitgeist zitieren. Giorgio Agamben empfiehlt gegen den „Göttlichen Kapitalismus“ (so der Titel eines Symposiums der HfG-Karlsruhe 2005) die Profanierung, um zu neuen Gesellschaftsformen zu gelangen. Und zwar in dem Sinne, dass heilige Dinge so wieder im Alltag gebräuchlich werden, also dem Gebrauch zurückgegeben werden. Ist das ein probates Mittel? Können die Dinge dem Gebrauch zurückgegeben werden?

Na ja, da sind so viele Voraussetzungen, die man mitmachen müsste, um das zu diskutieren. Man müsste zuerst der These der Sakralisierung zustimmen, und Sie haben ja gehört, dass ich die nicht sehr realitätshaltig finde. Das ist wiederum ein Diskurs, bei dem mich heftige Zweifel anwehen. Wenn Menschen verführt werden sollen, etwas zu kaufen, und wenn man das dadurch versucht, dass man ihnen Bilder ihrer eigenen Sehnsucht vorhält, die mit dem, was sie kaufen sollen, verknüpft werden, dann ist das streng genommen keine Sakralisierung, sondern ein an Warenkonsum geheftetes Glücksversprechen. Sakralisierung ist, wenn man etwas für unantastbar erklärt. Wenn es jedoch bei uns etwas Unantastbares gibt, dann ist das das Privateigentum an Produktionsmitteln oder das Kapital. Dazu gehören neuerdings die so genannten „intellektuellen Eigentumsrechte“, über die so große Konflikte bei den Welthandelskonferenzen ausgefochten werden. Das könnte man meinetwegen die Sakralisierung im Sinne einer weihevollen Tabuisierung des Kapitals nennen, und dann wäre die Software-Piraterie eine Desakralisierung. Die Open-source-Bewegung könnte als Form aufgefasst werden, die allgegenwärtige kapitalistische Beschlagnahmung von Welt wenigstens partiell zu unterlaufen. Sonst sehe ich nicht viele Möglichkeiten zu desakralisieren. Oder man könnte zum Beispiel Konzerne enteignen und vergesellschaften, so gesehen wäre das dann eine Desakralisierung. Aber man muss den Vordersatz mitmachen, um die Folgesätze sagen zu können. Wenn man aber wie die jetzige neue „Bewegung der Bewegungen“, die sich in den Welt-Sozialforen artikuliert, meint, dass die Welt keine Ware sein dürfte, dann müsste man das anders darstellen. Was heißt, die Welt ist keine Ware? Dass man notfalls mit Mitteln des Widerstands, der Besetzung, des Sitzstreiks, der Blockade irgendeiner Art verhindert, dass – nehmen wir ganz schlichte Beispiele – ein Wald gerodet, ein Stück Natur plattgemacht, ein Stadtviertel abgerissen wird. Dabei widersetzen sich diejenigen, die das tun, dem Grundrecht des Privateigentümers, dieses umfasst seit der Römerzeit erstens das Recht andere vom Gebrauch der betreffenden Sache auszuschließen, und zweitens das Recht, diese Sache nach Gutdünken zu gebrauchen und zu missbrauchen, ius utendi vel abutendi. Dagegen tritt nun Widerstand auf, der sagt: nein, dieses Recht kann nicht gelten, es kann kein Recht auf Missbrauch unserer allgemeinen Lebensbedingungen geben, denn dieser Baum, dieser Wald, dieser Fluss, in den eine Papierfabrik ihren Dreck reinleiten will, dieses Wohngebiet oder Baudenkmal sind etwas – jetzt kommt’s drauf an welches Pathos man entfalten will –, was der Menschheit insgesamt gehören soll oder was sogar nicht einmal der gesamten gegenwärtigen Menschheit gehören darf. Wissen Sie, was Marx an der Stelle gesagt hat? Ganz schneidend: Keine Nation, auch nicht alle Nationen zusammen, geschweige denn ein Privateigentümer, haben das Recht, ein Stück der Erdoberfläche, die Luft, das Wasser, als ihr Privateigentum zu behandeln. Sie sind nur die momentanen Besitzer und haben die Pflicht, diese Daseinsbedingungen den kommenden Generationen verbessert zu hinterlassen. Weiter kann man nicht gehen. Hier wird der Anspruch formuliert, dass diese absoluten Lebensgrundlagen unserer Gattung und aller anderen Gattungen, die auf diesem bedrängten Globus noch leben, etwas Unantastbares zu sein haben. Oder jedenfalls, dass es einen Anspruch geben muss, dass, wo immer eingegriffen wird, auf eine Weise eingegriffen wird, die das Entnommene auch wieder zurückgibt, Recycling nennen wir das heute, auch das ein die Perspektive organisierender Gedanke aus dem „Kapital“ von Marx. Natürlich ist hier eine offene Grenze zur Utopie, und letztendlich wird es kaum möglich sein, das Entnommene restlos zurückzugeben. Geschichte ist auch auf der ökologischen Achse ein unumkehrbarer Prozess.

Recycling ist ein gutes Stichwort für das, was ich meine. Ich glaube, es wäre gut an dieser Stelle über die Grenze zu sprechen, die das Heilige vom Profanen bzw. bei der Ware den Tauschwert vom Gebrauchswert trennt. Der Schein ist doch nicht wirklich unser Hauptproblem, der lässt sich ja wunderbar beschreiben, sondern unser Problem ist der Gebrauch oder auch das Profane. Beide entgehen doch strukturell unserer Wahrnehmung. Wir gebrauchen einfach etwas, das ist „Zeug“ in der Sprache Heideggers. Was sind also diese Gebrauchswerte?

Es ist wahr, dass der Gebrauchswert nicht einfach als das Positive dem Wert gegenübergestellt werden kann. Der Wert steht praktisch stellvertretend für die Art, wie ich das Verbrauchte oder Entnommene ersetze. Wobei der Konflikt sich auf die Frage verlagert, welcher Ressourcenverbrauch wie gewichtet werden soll und wer für den Ersatz verantwortlich sein soll. Damit sind wir im Gespräch plötzlich auf der Wertseite gelandet, die, solange es Marktverhältnisse gibt, tatsächlich in dieser Frage das Belastbare ist, während zur Abwechslung der Gebrauch zum Problem wird. Man kann ja „unser Oma ihr klein’ Häuschen“ nicht einfach verjubeln und sagen „Scheiß der Hund auf die nächsten Generationen“. Wenn man, wie Marx das im „Kapital“ fordert, unsere Erdoberfläche und alles, was dazugehört, pfleglich behandeln und der nächsten Generation verbessert übergeben können sollte, dann müsste man mit dem Verbrauchen vorsichtig umgehen. Es wäre jetzt genauso töricht zu sagen, der Verbrauch ist schlecht. Das Problem ist dann umgekehrt so zu formulieren: schlecht sind alle Mechanismen, die uns anstacheln, mehr zu verbrauchen als wir eigentlich brauchen. Schlecht ist Vergeudungskapitalismus, schlecht ist alles, was seinen Profit daraus zieht, dass wir uns zu unserer Lebensumwelt zerstörerisch verhalten, ja verhalten müssen, weil man uns keine andere Wahl lässt, wenn uns die Dinge als unreparierbare produziert werden, wenn der vorzeitige Verschleiß in sie eingebaut ist. Jedenfalls ordnet sich die Kritik in dieser Weise anders an, als wenn wir mit Heideggers Zeugbegriff operieren.

Anders gefragt: Saussure hat bekanntlich seine Theorie des Zeichens in Anlehnung an die Ökonomie entwickelt. Ähnlich wie die Ware besitzt das sprachliche Zeichen Doppelcharakter, ist Signifikat und Signifikant. Baudrillard hat kurze Zeit nach Ihnen erkannt, dass sich die Welt der Waren nur noch selbst reproduziert, er nennt diesen Vorgang „Simulation“, kommt allerdings zu dem Schluss, dass damit der Gebrauchswert ebenfalls erledigt sei. Dem müssten Sie vehement widersprechen. Das wäre tatsächlich die Idee der Ablösung der Tauschwerte vom Gebrauchswert, der Zirkulation, des Flottierens der Signifikanten.

Abgesehen davon, dass bei der angeblichen Selbstreproduktion der Warenwelt unsere eigene Reproduktion wenigstens mit abfällt und dass der Simulationismus eine wilde Spekulationblase darstellt: Der Begriff der Valeur oder „sprachlichen Wertigkeit“ in der Linguistik ist nicht derselbe wie der Begriff des Werts in der Ökonomie. Hier wird dasselbe Wort gebraucht, und wir hätten den Fall einer Äquivokation, vor der uns der linguistic turn eigentlich hätte warnen müssen: Zwei ganz unterschiedliche Dinge haben denselben Namen.

Aber Saussure entwickelte seine Theorie sprachlicher Werte am Beispiel des Geldes.

Ja, in der Sprache wie in der Ökonomie sieht er Systeme der >Äquivalenz< ungleicher Dinge am Werk. Aber von der Warenanalyse, ganz zu schweigen von Werttheorie und Wertformanalyse, weiß er rein gar nichts, was über Vulgärökonomie hinausginge. Worauf es bei ihm hinausläuft, ist zudem etwas anderes, nämlich dass sich die Arbeit zum Lohn verhalte wie das Signifikat zum Signifikanten. Das läuft darauf hinaus, dass Lohn Arbeit bedeute. Na ja. Ich sag’s jetzt einfach noch mal, und es auszuführen wär’ ne eigene Vorlesung: Die Valeur Saussures hat nichts zu tun mit der Arbeitswertlehre. Das wäre auch verblüffend, denn die Worte lassen sich doch nicht als Produkte gesellschaftlich notwendiger Arbeit beschreiben, sondern sie müssen kommunikativ etwas leisten, und Saussure möchte erreichen, dass in die Analyse dieser Leistung keinerlei Ungleichzeitigkeit eingehen soll.

Das, was von Natur aus nicht zusammengehört, kann natürlich zusammengebracht werden, und genau das hat Baudrillard gemacht. Er hat eine Parallele zwischen dem Wertgesetz der Ware und dem linguistischen Zeichen gesehen.

Ja, aber er verabsolutiert dabei die soziale Distinktionsfunktion der Dinge, mit denen wir unsere Bedürfnisse befriedigen, und nennt das ihre „valeur d’échange signe qui est fondamentale“, „ihren Zeichen-Tauschwert, der grundlegend ist“ und gemessen an dem der Gebrauchswert eine bloße Rationalisierung sei. Gut, es mag seine Sache sein, wenn er etwas Saussure gemischt mit etwas Althusser so adaptiert. Doch wenn er die Marxsche Werttheorie da mit hineinzieht und das unter dem marxoiden Buchtitel Zur Kritik der politischen Ökonomie des Zeichens tut, dann macht er sich einer Begriffsentführung schuldig. Wir nannten das metaphorischen Marxismus, und das ist mit das Grausigste, was es für ernsthafte Gesellschaftsanalytiker gibt. Da existieren Wörter einfach wie Freiwild. Jeder kann sie sich nehmen und irgendeine Bedeutung damit verknüpfen. Das ist unser linguistic turn, dass wir sagen, wir dürfen nicht der so genannten Äquivokation oder ihrem Gegenstück, der Synsemie verfallen und die Zweideutigkeit von Ausdrücken für Scheinschlüsse benützen. Wiederum unter den Ersten, die dazwischen gegangen sind, war Marx. Nämlich bei den Wörtern Gebrauchswert und Tauschwert, in denen beides Mal das Wort „Wert“ vorkommt. Marx hat linguistische Überlegungen gemacht, um sich zu verdeutlichen, dass die Wortgleichheit bei ungleicher Sache eine Falle ist, in die man nicht gehen darf. Sein Beispiel war das Wort Salz. Salz war die erste derartige kristalline Substanz, die man kannte. Also hat man andere kristalline Sunstanzen dieser Art Salze genannt, zum Beispiel Zucker war ein Salz. Entsprechend bei der Butter: man sprach von Zinkbutter, Antimonbutter und dergleichen, weil sie eine ähnlich pastose Konsistenz hatten. Man kann also den Anwendungsbereich eines Wortes auf der Spur irgendeiner Analogie ausweiten. Marx macht diese Reflexion, um zu sagen, dass die Verwechslung von Wortgleichheit mit Gleichheit der Sache das Gegenteil klaren Denkens wäre. Man muss diese Verführung der Sprache brechen. Da ist ihm später Nietzsche dann gefolgt, und noch mal später hat Wittgenstein die Verführung durch Sprache und den Widerstand gegen diese Verführung zur eigentlichen Funktion der Philosophie erklärt. Auch wenn wir als aufgeklärte Moderne Gott los sind, sagte Nietzsche, sind wir noch lange nicht die entsprechnden Effekte der Grammatik los.

Der späte Wittgenstein würde aber nicht behaupten, dass die Grammatik ein Gefängnis sei. Das klingt ja bei Ihnen so, als gäbe es im Bereich der Theorie so etwas wie Umweltverschmutzung und Umweltschützer. Baudrillard wäre in dem Sinne ein Umweltverschmutzer, denn er macht mit der Sprache etwas, was eigentlich nicht erlaubt ist. Brauchen wir Ihrer Ansicht nach so etwas wie eine neue Ethik der Theorie? Diese „unzulässigen“ Kombinationen geschehen doch tatsächlich, Bilder und Zeichen, die nichts miteinander zu tun haben werden miteinander kombiniert. Genau das meint doch Baudrillard, wenn er sagt, dass die Signifikanten flottieren.

Nee, das ist ja auch richtig. In diesem Punkt widerspreche ich gar nicht, aber jeder Wissenschaftler muss eine gewisse handwerkliche Präzision im Umgang mit seinen Denkwerkzeugen verteidigen. Wenn jemand sagt, du kannst ein Mikroskop nehmen und einem anderen damit den Schädel einschlagen, dann würde ein Biologe einwenden, dass das nicht der adäquate Gebrauch für ein Mikroskop sei. Und so gebrauche ich den Wertbegriff anders als Baudrillard. Im Grunde ist jemand, der den Ausdruck Wert in der Ökonomie und Linguistik für dieselbe Sache hält, bloß weil dasselbe Wort vorkommt, nicht viel besser als jemand, der ein Mikroskop nimmt und einem anderen damit den Schädel einschlägt. Das ist tatsächlich ein Missbrauch.

Deshalb sprach ich von einer Ethik der Theorie.

Sagen wir lieber Ethos. Natürlich brauchen wir ein intellektuelles Ethos. Leider ist es weithin kaputt. Der Intellektuelle des Marktes pfeift darauf.

Ein lange in der Ästhetik vernachlässigter Begriff ist durch Autoren wie Lyotard wieder in Mode gekommen: der des Erhabenen bzw. des Sublimen. Die unüberschaubare Größe der weltweiten Warenzirkulation müsste den heutigen potenziellen Konsumenten eigentlich in jenen „delightful horror“ versetzen, von dem Burke gesprochen hat. Warum fehlt das Erhabene in der marxistischen Ästhetik, aber auch in der von Ihnen begründeten Warenästhetik?

Na ja, in der Warenästhetik kann es das nicht geben. Die Warenästhetik ist parasitär. Parasiten haben kein Erhabenes. Und die schlechte Unendlichkeit der Warenwelt hat nichts gemein mit Kants Vernunft-Idee des Erhabenen, das alle sinnliche Vorstellbarkeit übersteigt, die Hegel dann in sein Substanz-Subjekt des Geistes überführt hat. Oder sagen wir so: Alles, was bestimmten Menschen als „erhaben“ gilt, ist für die Warenästhetik reines Material, um genau diese Menschen für den Kaufakt zu gewinnen. Die Warenästhetik verhält sich zu allem, was uns etwas bedeutet, instrumentalisierend. Mein Beispiel dafür war diese berühmte Geschichte mit der Jeanswerbung, wo als Gebot aller Gebote drunter stand: „Du sollst keine anderen haben neben mir.“ Der Markenname war „Jesus Jeans“. Witzigerweise gehörte die Firma, die diese Jeans produzierte, laut Spiegel dem Vatikan, der übrigens nicht versäumte, im Osservatore Romano an diesem Beispiel gegen die Permissivität der Kultur zu wettern. Das Erhabene schließt den instrumentalisierenden Bezug aus. Vielleicht kann es deswegen in der heutigen Massenkultur das Erhabene nicht mehr geben, weil es keine mit entsprechender Macht versehene Instanz mehr gibt, die einen nicht-instrumentellen Bezug dazu hätte. Ob man dem nachweinen soll, ist eine andere Frage.

Nun ist ja laut Immanuel Kant das Erhabene nicht in einer sinnlichen Form enthalten, sondern das Gefühl des Erhabenen entsteht durch die Bewegung oder Spannung der Einbildungskraft, dadurch dass sich der Mensch zeitweilig über die Erscheinung erhebt. Müsste nicht folglich eine dem Sublimen ähnliche Stimmung der Unlust-Lust entstehen, wenn sich der Fetischcharakter der Ware als erkennbar aber unauflöslich innerhalb der bürgerlichen Produktion erweist?

Ich wüsste gerne, wie Kant den Zusammenstoß des Verlangens nach dem Erhabenen, das „durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt“, mit der allgegenwärtigen Belagerung unserer Sinne durch die Warenästhetik verarbeiten würde. Die Probleme stellten sich damals noch anders. Kant ist im Denken ziemlich parallel zur Französischen Revolution. Ein italienischer Dichter verdichtete das in den Spruch: „Maximilien Robespierre hat den König, Kant Gott geköpft.“ Andererseits vermag Kant sich Ethik als realisierte nicht ohne Bezug auf dasjenige vorzustellen, was wir als Gott, das Erhabenste alles Erhabenen, verehrt haben. Deswegen sagt er, ich drücke es mal in meinen Worten aus, in dem Moment, in dem wir uns ethisch verhalten, produzieren oder besser projizieren wir Gott. Das heißt, ich kann Gott zwar weder direkt erkennen, noch seine Existenz beweisen – alles das ist von nun an ausgeschlossen –, aber im selben Moment, in dem es mir praktisch darum geht, wie die menschlichen Dinge normativ zu regeln wären, postuliere ich ihn wieder. Das ist das Kantsche Problem. Das kann man aber nicht einfach auf die Jetztzeit übertragen, da wir dieses Problem so kaum mehr haben. Ich glaube, man sollte dann lieber das Erhabene mit dem Sakralen in dieser Form zusammenbringen, wie wir das vorhin im Gespräch hatten. Es gibt eben eine Dimension im Dasein, die für uns nicht verfügbar ist, und wir sollten diese Unverfügbarkeit anerkennen. Wohlgemerkt, hier geht es nicht mehr um die uns mit aller Macht auferlegte Unverfügbarkeit, mit der man die kapitalistische Produktionsweise sakralisiert hat. Sondern im Grunde öffnet sich hier der Zugang zu dem, was man früher Weisheit genannt hat, etwas, das ich für ungeheuer aktuell halte. Hier klafft eine Leerstelle in unserer Kultur, für die es keinen Namen mehr gibt.

Die Leere ist eine gute Überleitung zu meiner nächsten Frage. Im Kapitalismus sind die Menschen dazu verdammt zu konsumieren. Der Konsum scheint ihre einzige und heilige Pflicht. Selbst in Zeiten des Mangels bzw. der Rezession scheint Konsum und nicht Enthaltung das einzige Mittel, um die Produktion erneut anzukurbeln. Damit nicht so etwas wie das Gefühl der Sinnlosigkeit hinsichtlich der kollektiven Ziele der Gesellschaft aufkommt, setzt das System sozusagen die „Zerstreuungsindustrie“ ein. Die Diagnose war damals stimmig und heute erst recht. Allerdings in der „Kritik der Warenästhetik“ gibt es noch Hoffnung, Sie schreiben dort: „Die Gestalten der Illusionsindustrie bevölkern gespenstisch scheinhaft den Raum, der im Kapitalismus leer ist und den erst der Sozialismus real füllt“. Glauben Sie heute noch daran, dass sich dieser Raum real füllen lässt?

Ich glaube zumindest zu wissen, dass alle Bestrebungen, ein lebenswertes Leben auf dieser Erde nachhaltig aufrecht zu erhalten, darauf hinauslaufen müssen. Ich hatte damals, Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, aber auch nicht die Illusion, dass die Revolution bevorstünde. Meine Illusionen waren andere. Ich sehe im übrigen auch momentan überall auf dieser Welt viele Projekte und Bestrebungen, die im Einklang mit dem sind, was ich zu wissen glaube. Ein lebenswertes Leben für alle anzustreben, ist nicht aus der Welt der menschlichen Praxis verschwunden, ganz im Gegenteil. Viele spüren diesen auf Dauer zerstörerischen und unaushaltbaren Mangel, auch manche Konservative und Bürgerliche. Dieser Mangel ist nicht bloß oder primär ein geistiger, sondern der Mangel an einer nachhaltigen Art, menschliches Leben auf diesem Globus zu organisieren. Das ist im Grunde der Mangel aller Mängel und der herrschende Nihilismus der Tat. Wir verjubeln tatsächlich unser „Oma ihr klein’ Häuschen“.

Slavoj Zizek hat den Buddhismus als paradigmatische Ideologie des Spätkapitalismus bezeichnet. Die buddhistische Haltung gewährleiste die Teilnahme an der Dynamik des Marktes, gleichzeitig erlaube sie aber auch eine innere Distanz zu den vom Markt erzeugten Illusionen. Das könnte erklären, warum der Kapitalismus sich gerade in den fernöstlichen Ländern so erfolgreich ausbreiten kann. Können Sie sich mit dem Gedanken anfreunden, dass das epochale Buch zum Kapitalismus im 21. Jahrhundert eigentlich den Titel „Die Buddhistische Ethik und der Geist des Spätkapitalismus“ heißen sollte?

Vergessen wir nicht den Gegenpol, den „Geist des Konfuzianismus“, der im asiatischen Kapitalismus eine vermutlich bedeutendere Rolle spielt! Wie der Kapitalismus sich mit einer Religion ohne Gott und ohne Jenseits verbindet, die Erlösung von der Unruhe des Seins und schließlich vom Sein schlechthin anstrebt, müssten wir genauer untersuchen. Wie die innerweltliche Weltabkehr sich mit dem Kapitalistendasein des gejagten Jägers nach Profit vereinbart, ist eine Nachfrage wert. Die europäische Philosophie geht aus von Grundgedanken wie dem von Spinoza formulierten: „Jedes Seiende ist bestrebt, sein Sein zu erhalten.“ Seinsmehrung wird als Freude erlebt, Seinsminderung als Trauer. Das passt zur Kapitalakkumulation. Wie aber passt dazu eine Kultur, deren philosophischer Grundsatz lauten könnte: „Jedes Seiende ist, wenn es denn weise ist, bestrebt, sein Sein auszulöschen.“ Ich bräuchte ein neues Leben und müsste eintauchen können in diese Gesellschaften, um herauszufinden, ob das wirklich so ist, wie man sagt. Müsste es nicht auch dort einen Satz geben wie jenes andere Axiom der abendländischen Philosophie, das jeder rechenhaften Existenz zu Grunde liegt: ex nihilo nihil fit, „aus nichts wird nichts“?

Ästhetisierung scheint im in seine Spätphase eingetretenen Kapitalismus das Allheilmittel zu sein. Das beginnt mit der Ästhetisierung der Ware, setzt sich in der Ästhetisierung der Politik fort und erreicht meiner Ansicht nach einen weiteren Höhepunkt in der Ästhetisierung von Krieg und Terror. „Kritik der Warenästhetik“ endet mit einem ironischen Hinweis auf den Zauber von Bayreuth. Glauben Sie, es ist angebracht, von Spätkapitalismus als einem Gesamtkunstwerk zu sprechen, in dem alles und jeder zur Ware geworden ist und einzig der Konsum Erlösung verspricht?

Wieder gehe ich auf Distanz zu dieser kulturkritischen Formel. Die Kulturkritik hat wirklich ein Grundproblem, deswegen ziehe ich die gesellschaftskritische Herangehensweise vor. Reine Kulturkritiker glauben immer, sie könnten aus den Phänomenen selber, ohne weiteren Zugriff, die Kritik entwickeln. Der Kapitalismus ist gewiss kein Gesamtkunstwerk, aber in ihm heißt es, alle Hebel in Bewegung setzen für die Verwertung des Werts, und darum überschüttet er uns mit einer Flut von Bruchstücken solcher „Gesamtkunstwerke“. Dem liegt ein ästhetischer Zynismus zugrunde, der letztlich kein anderes Kriterium kennt, als das der Kasse. Das Ästhetische, das eigentlich die große Aussparung vom allgemeinen Verwertungsprozess meint, ist hier zur Form des Verwertens selbst geworden. Das heißt auch, dass jede bloß kulturkritische Reflexion ins Leere greift, die den Schein für bare Münze nimmt. Man muss von dieser quasi totalen Ästhetisierung zurückgehen zu der Instanz, den Zwecken und Funktionszusammenhängen, die das Ästhetische als Instrument einsetzen. Eine kapitalistisch instrumentalisierte Ästhetisierung ist streng genommen keine Ästhetisierung mehr, sie ist eben Warenästhetik oder sagen wir so, Realisationsästhetik. Die Waren müssen realisiert werden, und nicht nur die Waren, das Kapital insgesamt muss realisiert werden. Vielleicht ist dieser Begriff der Realisation, des, wie es so schön zweideutig heißt, „Losschlagens“ von Waren, mehr als andere Begriffe geeignet zu benennen, worum es sich bei der Sinnlichkeitsindustrie dreht. Man muss sich auch hüten, mit dem Wort „konsumieren“ allzu freigiebig umzugehen. Es ist ja gar nicht so, dass wir unbedingt konsumieren sollen, wir sollen kaufen.

Wir konsumieren gar nicht, denn der wahre Konsum würde ja den Verbrauch und die Vernichtung der Ware bewirken, Konsum im Sinne von Gebrauch, Verbrauch und Verzehr.

Wann immer man den Konsum schlägt, schlägt man den Sack, man müsste aber den Esel schlagen, der den Sack trägt. Das Wort hinterm Konsum ist Kauf, das Wort hinterm Kauf ist Verkauf und das Wort hinterm Verkauf ist Profit. So sind die Dinge verkettet. Deswegen sollte man nicht den Konsum schlagen. Vielmehr sollte man Sätze kritisch unter die Lupe nehmen, die das alles so darstellen, als gäbe es ein Gebot, wir sollen konsumieren. Das Entscheidende, der Kaufakt, bleibt dabei ausgespart. Anders wär’s ja auch nicht gut erklärbar, dass in jeder Sekunde auf diesem Globus soundsoviel Tausend Menschen an Hunger und Durst oder weil sie sich den Arzt und die Medizin nicht leisten können verrecken. Kurzum, unterm Mantel der Kritik bewegen wir uns, wenn wir primär gegen den Konsum zu Felde ziehen, in der Ideologie. Wir glauben furchtbar kritisch zu sein und reproduzieren im selben Moment noch einmal die Legitimation. Warum sollten die Leute gegen ein System sein, das es ihnen angeblich als Pflicht auferlegt, ihre Bedürfnisse zu befriedigen? In Wirklichkeit werden ihre Bedürfnisse verraten und in ganzen Erdzonen bleibt der Mehrheit der Bevölkerung die elementare Befriedigung ihrer Bedürfnisse vorenthalten. Aber wir finden das auch bei uns. Machen wir uns doch nichts vor, wer vom Arbeitslosengeld II leben muss, wie soll der Konsumismus machen?

Zum Schluss könnte ich noch einmal Peter Weibel zitieren, der gesagt hat, dass sich das 21. Jahrhundert von der Ideologie des Konsumismus verabschieden muss und sich von dieser Ideologie auch verabschieden wird.

Ja, wir wissen’ s noch nicht...

Warten wir’ s ab...

Aber nicht untätig!